Montag, 27. August 2007

Lebenszeichen





Es lebt sich in Moskau so schnell, dass ich manchmal das Gefühl habe, ich stehe am Bahnsteig und sehe zu, wie mein eigenes Leben wie ein Zug durchfährt - ohne anzuhalten. Vielleicht kennt ihr das Gefühl, wenn euch eine Stadt die ganze Zeit stiehlt, euch abends totmüde und erschöpft nach Hause kommen lässt. Schon bei der Überlegung, was an diesem Tag alles passiert ist, bin ich meistens auch schon eingeschlafen.
Deswegen lebt mein Blog auch nur von ruhigen Minuten, in denen ich endlich wieder nachdenken kann: Reflektionen sozusagen. Die vergangenen Wochen waren nicht ruhig.
Nun, ich will mal versuchen, euch die vergangenen Wochen nahezubringen. Vielleicht erzählen euch die Menschen, denen ich begegnet bin mehr von dem, was ich so denke und mit was ich mich so beschäftige:

Plötzlich stand ich vor einem 96jährigen Mann, dessen Leben in 2000 Seiten seiner Memoiren nicht einmal ansatzweise zu erzählen ist. Ich hatte jede dieser Seiten gelesen, als ich mich in meiner Magisterarbeit mit den sowjetischen Raketeningenieuren beschäftigt hatte. Dann steht er endlich vor mir. Groß war er, und alt. aber fit. Er trug die größten Adidas-Sneakers, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Nach mehr als 2 Stunden Interview kickte er mich aus seinem Dinosaurierleben mit dem Worten: "Damals, in den 50er Jahren in Baikonur gab es keine Frauen. Und das war gut so, sonst wäre die Rakete nie geflogen!"

Einige Tage später platzte ein Physiker in mein Büro, der früher als Kernphysiker gearbeitet hatte und sich nun eine neue Beschäftigung beschaffen musste. Anhand der unzähligen Moskauer Staus, in denen Menschen zum Teil ihren halben Arbeitstag verbringen, untersucht er kleine Teilchen, wie sie sich in Bewegung verhalten. Er konnte mir begreiflich machen, dass nur eine einziger Bus an einem Stau schuld sein kann, in dem es stundenlang nicht vorwärts geht.

Als ich auf der internationalen Luft- und Raumfahrtmesse vergangene Woche endlich nassgeschwitzt durch den Security-Check durch war und verzweifelt versuchte, mich auf diesem undurchsichtigen Plan zu orientieren, wurde ich von hinten von zwei gewaltigen, baumstammartigen Armen hochgehoben und wie ein falsch geparktes Fahhrad zur Seite gestellt. Verblüfft drehte ich mich um und guckte ca. auf dem Bauchnabel dieses Bären, der mich eben drei Meter weg versetzt hatte. Da rannte Putin auch schon im Laufschritt an mir vorbei. Der Bär riss mir sofort meinen Fotoapparat weg, so sind seine Ellenbogen und dahinter das schusssichere Putin-Mobil, das einzige, das ich euch als Erinnerung zeigen kann. Aber vielleicht sagt das mehr aus als all die halbnackten Putin-Bilder, die man in den Zeitungen sieht.

Dafür protzte Alexander Leonow förmlich in meine Kamera und seine mit Orden behangene Brust glänzte mir förmlich entgegen. Er fragte den ESA-Generaldirektor, ob es in Europa auch so heiß sei, wie in Moskau. Im Weltall - wo er als erster Mensch aus dem Shuttle gestiegen war - jedenfalls sei es sehr kalt gewesen.

Lässig und cool hüpfte dafür Brandenburgs MP Platzek über die MAKS und gab sogar zu, dass ihm der Vodka bei der Hitze in den Kopf gestiegen sei. Deswegen sagte er auch im Interview immer wieder: "oh, Sie sind ja vom Spiegel, na, dann hab ich das jetzt nur off the records gesagt!"

Dienstag, 7. August 2007

zurück in die Zukunft: Sergej Posad














































Aus Moskau gen Nordwesten hinauszufahren war wie einmal tief Luft zu holen. Langsam schleppte sich der alte und nicht mehr ganz TÜV-sichere, ehemalige deutsche Reisebus (mit noch deutscher Aufschrift) aus der Stadt hinaus und zog eine Rußwolke wie eine grauschwarze Fahne hinter sich her. Hinter den letzten großen Wohnblöcken wurde es plötzlich grün: Wiesen, Wald, Horizont und knallblauer Himmel. Die Sonne heizte den Bus innerhalb von Minuten auf, ich schwitzte. Der alte Mann mit den fettigen Haaren und dem zerwaschenen Jogginganzug neben mir machte seine dritte Bierdose auf. Er stank bestialisch, ich drückte mir meine Nase an den schmierigen Fensterscheiben platt.
Nach eineinhalb Stunden tuckerte der Bus über den Bouleward der Roten Armee in Sergej Posad ein, kam ächtzend am Bahnhof zum Stehen. Als ich tief Luft holend aus dem Bus sprang, war da dieses Gefühl von einem Trip "zurück in die Zukunft". Durch seine Zahnlücken hinweg grinsend empfing mich ein sehr alter Harmonika-Spieler. Er saß dort am Busbahnhof und gehörte irgendwie zum Inventar dazu: Laut sang er alte Lieder vom Großen Vaterländischen Krieg, von den Soldaten und der Liebe, von den Helden der sozialistischen Arbeit. Rings um ihn herum waren Baustellen, Neubauten, Spielcasinos und Supermärkte, die dieser historischen Stadt am Goldenen Ring eine wohlhabende Zukunft versprachen.
Meine Freunde holten mich ab, kauften mir Eiscreme zum Frühstück, um mich willkommen zu heißen und los ging es auf eine historische Entdeckungstour. Eigentlich wollte ich alles über die Geschichte Alexander Newskijs und der Zeit des heiligen Sergejs erfahren, doch wir redeten immer nur über die Einkaufszentren, die bald hier und da entstehen werden, über das Rathaus, das gerade fertig gestellt wurde, und über die prächtigen Villen, die zwischen den alten verfallen Holzhäuschen hervorstachen. Als wir im historischen, gerade frisch restaurierten Stadtkern ankamen, hatte ich schon das zweite Eis-am-Stil in der Hand. Irgendwie gehört das einfach zum russichen Sommer dazu, Unmengen an Eis zu verdrücken. Meine neuen Freunde zeigten mir stolz die Kirchen und Türmchen, führten mich an den Ikonen vorbei und wollten doch gleich wieder weiter zum Autoscooter und Rummelplatz, der um die Ecke aufgebaut war. So rasten wir an der Warteschlange für die Kathedrale vorbei und wunderten uns, warum die nächste Warteschlange an einem Kreuz endete, aus dem heiliges Wasser herausfloss und schon fand ich mich auf einem Kettenkarussell wieder. Es war einfach ein typischer, russischer junger Nachmittag: etwas Kultur, dann viel leichtes Vergnügen und dazwischen viel Eiscreme.

Zum Abendessen waren wir alle auf der Datscha von Daryas Eltern eingeladen. Ich überstand die übliche Fragestunde nach meinen außergewöhnlichen vegetarischen Essgewohnheiten, indem ich mein Vegetarier-Dasein aus meiner "Religion" heraus begründete. Die Großmutter zupfte entsetzt an meinen Hüften herum: "Wie kannst du nur leben ohne Fleisch? Damals, im Lager, oben am Polarkreis - Mädchen - was wir uns da nach Fleisch gesehnt haben!" Sie war durch Stalins Großen Terror zum Waisenkind geworden, auf Stalins Befehl als 2jähriges Kind ins Waisenhaus an den Polarkreis verschleppt worden und musste dort im Lager schuften. Sie kochte mir Kartoffeln während sie vom Lager erzählte. Ich war dankbar: für die Geschichte, die sie mir anvertraute, und die Kartoffeln, die sie mir kochte. Sie verstand die Welt nicht mehr: "Ich bin zu alt, um an den Vegetarismus zu glauben, Kind. Wir haben auch an Vieles geglaubt, als ich jung war." In Sibirien überlebe man als Vegetarier nicht lange, bekräftigte auch der Vater und guckte mich entsetzt an, als ich von der Baikal-Rundreise erzählte: "Zu Fuß? Ihr Vegetarier habt sie ja nicht mehr alle!", sagte er und kaute weiter auf seinem Knochen herum.
Nach dem Tee mit russischer Fernseh-Unterhaltung schlenderten wir zum See, spielten Volleyball auf dem alten Militär-Sportplatz bis die Sonne unterging und die Insekten uns die Beine zerstachen, dann brachte mich der Vater zum Bahnhof.
Unendlich müde und entspannt quetschte ich mich zwischen zwei alte Omas, die mit Kartoffeln, Zuchini und Gurken beladen im sitzen friedlich vor sich hinschnarchten. Sie rochen nach dem Leben auf dem Land und traten die Reise nach Moskau an, um morgen wieder an den Straßenrändern der hektischen Hauptstadt die Erträge aus ihrem Gemüsegarten zu verkaufen. Langsam tuckerte der Zug vor sich hin, hielt an jeder Siedlung und lud ganze Gemüsegärten in das Abteil. Am liebsten wäre ich nie in Moskau angekommen.