Montag, 26. November 2007

Millionärsmesse Moskau

Autofelgen aus Gold - und ein Mammut für die Gattin

Die Millionärsmesse in Moskau ist das Disneyland für Reiche Russen. Extravaganz verkauft sich am besten: Diamanten besetzte Autos, aus Mammutelfenbein geschnitzte Schachbretter und ausgestopfte Säbelzahntiger. Ein Schnäppchen kostet in der Kategorie der Superreichen eine Million Dollar.

Drei halbnackte, mit Glitzerspray eingeölte Blondinen räkeln sich auf dem Verkaufstresen. Mit ihren langen Beinen umkreisen sie eine mit 24 Karat vergoldete Espressomaschine der Edelmarke "Bugatti", die zur Auktion freigegeben ist. Innerhalb von wenigen Sekunden wird der zuvor kaum beachtete Ausstellungsstand mit den edlen Küchengeräten aus Italien zumBlickfang für russische Machobonzen.

3000 Euro bietet der dickliche Mann in der ersten Reihe, der sich leicht betrunken von den Mädchen zum Geld ausgeben anreizen lässt. 4000 Euro will Bulgar Rachmanow, ein Geschäftsmann aus Aserbaidschan, auf den Tisch legen. "Diese Kaffeemaschine gibt es nur ein Mal auf der Welt", zuckt er lässig mit den Schultern. Seine Hände stecken locker in der Hosentasche des braunen Nadelstreifenanzugs. "Wenn schon kein Bugatti vor meiner Garage steht, dann muss ich doch wenigstens einen in der Küche haben", erklärt er seinen Spontaneinkauf. Dabei trinkt er lieber Tee als Kaffee und fährt einen Austin Martin, wie er beiläufig anmerkt.


Die Millionärsmesse in Moskau ist das Shoppingparadies der Superreichen der russischen Hauptstadt. Sie findet in diesem Jahr zum dritten Mal statt und Moskau hat was Umsatz und Extravaganz angeht schon lange den beiden anderen Veranstaltungsorten den Rang abgelaufen: Amsterdam und Shanghai. In den zwei Ausstellungshallen am westlichen Stadtzentrum unternehmen mehr als hundert Stände von Luxusprodukten den Versuch, Menschen, die von der Jacht bis zum Privatjet ohnehin schon alles haben, doch noch
etwas zu verkaufen. Das Prinzip der 200 Aussteller: Exotisch muss es sein.

Ein Säbelzahntiger als Hauskatze

Einzigartig auf der Welt ist beispielsweise der zwei Meter lange, ausgestopfte Säbelzahntiger aus der späten Eiszeit - mit echtem Fell und original, rund 50.000 Jahre altem Schädel. Er fletscht am Ausstellungsstand des russischen Museums "Iceage" den Bonzen die 15 Zentimeter langen Eckzähne entgegen. Der Preis für dieses einmalige Stück: umgerechnet gerade mal rund 51.000 Euro. Da wendet sich manch Reicher gruselnd und kopfschüttelnd. "Zu billig", sagen sie dann. "Dabei ist das doch die perfekte Hauskatze", sagt, Alexander Swalow, Verkaufsdirektor des Moskauer Vertriebs für archäologische Funde aus der Eiszeit und streichelt dem gewaltigen Tier zärtlich durch das Fell. "Man muss ihn nicht füttern und er macht sich gut in großen Wohnzimmern", schmunzelt er.


Eigentlich verkauft "Iceage" Zähne, Skelette, Mammut-Schädel und Mammut-Elfenbein an Museen weltweit als Exponate. Nur in Russland interessieren sich hauptsächlich Privatkunden für die seltenen Fundstücke aus den sibirischen Eisschichten.

Im März vergangenen Jahres hatten Swalow und seine Kollegen einen sonderbaren Auftrag, verrät er. Ein reicher Russe wollte seiner Frau ein Geschenk zum Frauentag machen und bestellte ein Mammut-Skelett. "Wir mussten das dreieinhalb Meter hohe Gerippe mitten in der Nacht auf einem Hügel vor dem Haus aufbauen", erzählt er schmunzelnd. Umgerechnet fast 60.000 Euro kostete die Überraschung - das Mammutskelett steht immer noch in der Datschen-Siedlung am südlichen Stadtrand von Moskau.

Weltstadt der Milliardäre

Moskau ist heute so etwas wie die Weltstadt der Reichen, oder besser gesagt: die Welthauptstadt der Reichen, die ihr Geld so schnell ausgeben, als gäbe es kein Morgen. Laut Business-Magazin "Forbes" leben in der teuersten Stadt der Welt, mehr Milliardäre als in
jeder anderen Metropole. Russland ist mit 53 Dollar-Milliardären auf der Weltrangliste der
Superreichen auf Platz drei aufgestiegen, nach den USA und Deutschland. Ihr Vermögen ist zusammen 337 Milliarden Wert - mehr als ein Viertel des Bruttoinlandproduktes des Riesenreiches.

Das Durchschnittsalter der im russischen "Forbes"-Magazin veröffentlichten 100 reichsten Russen liegt bei 45 Jahren. Sie sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den wilden Neunziger Jahren schnell zu Geld gekommen und haben keine Scham, ihr Reichtum zu verprassen. Doch die Zeiten, in denen sich die Ölbarone mit Villen, Autos, Jachten und Privatjets eingedeckt haben, sind vorbei. Der erste Konsumrausch ist erst einmal befriedigt. Selbst ein eigenes U-Boot zu besitzen, ist "out".

"Um den reichen Russen überhaupt noch was verkaufen zu können, muss man sich was einfallen lassen", erklärt Leonhard Gruhm, Geschäftsführer der deutschen Geschwister Hillebrand GmbH, die Dresdner Porzellan in Moskau vertreibt. Deswegen hat er zehn Mitarbeiter der seiner russischen Partnerfirma zweieinhalb Monate lang 750.000 glitzernden Swarowski-Kristallsteinen auf einen weißen Mercedes kleben lassen. Jetzt ist der Wagen mehr als das Doppelte wert und ein attraktiver Blickfang, um die Schickeria an seinem Messestand mit den Porzellanvasen zu locken. Die Idee hat funktioniert: Eine Stunde nach Eröffnung der Messe haben bereits fünf Russen Interesse daran angemeldet. "Einer davon kauft den Glitzerwagen als Hochzeitslimousine", ist er sich sicher.


Schnäppchen für eine Million


Ein neuer Trend auf der Millionärsmesse sind in diesem Jahr bizarre Motorräder. Auch hier zieht Seltenheitswert als Verkaufsargument. Ob in violett mit goldenen Felgen, silber-blau glitzernden Motor oder mit Airbrush von nackten Frauen auf dem Benzin-Tank - jedes Motorrad ist ein Unikat und nur auf Bestellung zu bekommen. Ein anderer Hersteller, die russische Vertriebstocher des amerikanischen Motorradherstellers "Arlen Ness" rechnet mit großem Umsatz. Vor einem Monat haben sie in Moskau ein Geschäft eröffnet. In Sankt Petersburg suchen sie noch immer nach einem geeigneten Ausstellungsraum. Die meisten Russen, die umgerechnet über 50.000 Euro für eine getunte Chopper ausgeben, seien in ihrer Jugend schon Motorrad gefahren, erzählt Jaroslawl Pasternak, Verkaufsmanager von "Arlen Ness". Heute sind sie Chef eines Unternehmens und wollen sich ihren Jugendtraum erfüllen. Doch viele bestellen die edlen Maschinen nicht um damit zu fahren, erklärt er: "Wir haben Kunden, die stellen sich das edle Stück einfach nur ins Wohnzimmer."

Sonderangebote der Spitzenklasse gibt es auch: Eine Million kostet das Schnäppchen am Stand der Edelautomarke Bentley: Wer vier mit 750-Karat- Edelsteinen besetzte Felgen kauft, der bekommt den Wagen.

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In der Kältekammer gegen den Wodkarausch



Deutsche Firmen profitieren vom Goldrausch der Russen. Neben mit Kristallen besetzten Mercedes-Limousinen und Villen im Stil von Baden-Baden verkaufen sich auf der Millionärsmesse in Moskau auch medizinische Geräte für den Hausgebrauch: Die Kältekammer "Made in Germany" ist die teuerste Aspirin der Welt – gegen den dicken Kopf nach zu viel Wodka.

Sobald die Tür zur Kältekammer verriegelt ist und Enrico Klauer, ein erfinderischer deutscher Geschäftsmann, die Temperatur auf minus 85 Grad eingestellt hat, wirbeln in der Kabine kleine Schneeflocken umher. Die drei leicht bekleideten, russischen Models bekommen eine Gänsehaut, während die männlichen Messebesucher sie durch die Glastür hindurch schmunzelnd beobachten.

Die ein Quadratmeter große Box, die normalerweise zur Schmerzbehandlung bei Rheuma in deutschen Kliniken steht, ist so etwas wie die teuerste Aspirin-Tablette der Welt, oder ein extravanganter Alcaselzer-Ersatz: Für 160.000 Euro lässt sich so der Kater nach einer durchzechten Wodka-Nacht behandeln. Nach drei Minuten Kältetherapie ist der Kopfschmerz weg, die Durchblutung auf Hochtouren – das jedenfalls verspricht der deutsche Medizingerätehersteller „mecoTec“.

Die Firma aus dem süddeutschen Pforzheim will sich einen neuen Markt erschließen. Für das Badezimmer der reichen Russen hat Enrico Klauer einen Prototyp seiner Kältekammer entworfen. Sie ist kleiner und lässt sich wahlweise auch in der russischen Sauna anschließen. „Unser Partner ist sich sicher, dass sich die Box in Russland prima verkaufen lässt“, erklärt Klauer, Geschäftsführer von „mecoTec“, der in Moskau das deutsch-russische Joint Venture „Criohome“ aufgebaut hat. „Reiche Russen haben den Fitness-Trend entdeckt“, meint der russische Direktor Erganokow Chasanbi und zwinkert: „Aber das Wodka-Trinken können sie
dennoch nicht lassen.“

Auch die Deutsche Marie-Christine von Wedel, Teilhaberin der
Service-Agentur „The Noble World“, am Stand nebenan hat schon in der Kältekammer gebibbert. Vielleicht ist das ein Luxusprodukt, das die Firma in ihr Angebot aufnehmen wird. „The Nobel World“ versorgt die Schickeria mit allem, was zu einem Luxusleben dazu gehört: ob nun das Feriendomizil in Saint Tropez, Nizza oder Kitzbühl, einen privaten Joga-Trainer oder den Kindergeburtstag am Pool – für die Reichen organisieren sie alles, solange sie dafür bezahlen.

Früher waren die Deutschen und Briten ihre besten Kunden, heute seien es neben den Saudis die Russen, schwärmt sie. „Die Milliardäre aus Moskau geben ihr Geld gerne aus“, schmunzelt Wedel. Sie seien nicht so knausrig wie die Deutschen. 200.000 bis 300.000 Euro für ein Wochenende am Mittelmeer plus ein Kilo Kaviar. Das sei mittlerweile Standard.

Ausgefallene Wünsche muss sie dennoch manchmal organisieren: Ein Russe wollte unbedingt Champagner der Marke „Kristall“, die er mit dem Privatjet aus dem gerade in bester Lage eröffneten Moskauer Ritz-Carlton Hotel nach Saint Tropez einfliegen ließ. Die zwölf Flaschen für die Dinnerparty kosteten schlappe 100.000 Euro.

Die neue Generation der reichen Russen sei zivilisierter und noch jünger als die erste Generation der Oligarchen, verrät Wedel. Zwischen 35 und 40 Jahre schätzt sie ihre Kunden. „Die Zeiten, als die Russen polternd das teure Porzellan durch das Wohnzimmer der gemieteten Villen geworfen haben, sind vorbei“, erzählt sie sichtlich erleichtert. Jetzt sind die Russen ihre Lieblingskunden.

Knapp 70.000 Euro hat ihre Agentur „The Nobel World“ für den Ausstellungsstand auf der Moskauer Millionärsmesse ausgegeben. Doch es hat sich gelohnt. Fünf Interessenten kann sie schon am ersten Messetag verbuchen.

Deutsche Unternehmen profitieren sichtlich vom Geldsegen, den der hohe Ölpreis dem russischen Rohstoffmecca beschert hat. 53 Dollar-Milliardäre zählt das Riesenreich laut dem Business-Magazin „Forbes“. Es werden jährlich mehr. Russland hat Deutschland auf der Rangliste der reichsten Menschen der Welt fast überholt. Die Deutschen liegen mit 55 Milliardären auf Platz zwei, die Russen auf drei.

Die Superreichen wie der Ölmangnat Roman Abramowitsch oder der Aluminiumprinz Oleg Deripaska lassen sich bei der „Millionair Fair“ nicht sehen. Schließlich sind sie Milliardäre und außerdem besitzen sie schon alles. Im Fall von Abramowtisch: Jachten, ein U-Boot, einen
Privatjet und mehr als ein gutes Dutzend Villen. Also schlendern lediglich die so genannten Mini-Oligarchen, unscheinbare Banker und Geschäftsmänner mit Millionenvermögen, gelangweilt und gerne auch einmal in Jeans durch die Ausstellungshallen.

„Ich kann überhaupt keine Millionäre entdecken“, zuckt Hans Schott mit den Schultern. Gemeinsam mit seiner Frau Maja Schott, die Luxusimmobilien verkauft, ist er nach Moskau gereist, um sich die extravaganten Russen einmal live anzusehen. Im Fernsehen hat das Berliner Ehepaar im vergangenen Jahr eine Reportage über die Millionärsmesse gesehen. Dieses Jahr sind sie selbst hier und machen lange Gesichter: „Man braucht doch nicht nach Russland fliegen, um sich Mercedes, Volkswagen und Dresdner Porzellan anzuschauen“, seufzt Schott. Wahrscheinlich aber haben sie den ein oder anderen schwerreichen Russen einfach nicht erkannt.

„Made in Germany“ jedenfalls hat auf der Millionärsmesse einen ebenso guten Ruf wie in Russland generell. So ein Mercedes sei immer noch das beste Aushängeschild für deutsche Luxusprodukte, findet Leonhard Gruhm. Er ist Geschäftsführer der Geschwister Hillebrand
GmbH, die Dresdner Porzellan in Moskau vertreibt. Gruhm hat zehn Mitarbeiter zweieinhalb Monate lang 750.000 glitzernde Swarowski-Kristallsteine auf einen weißen Mercedes kleben lassen. Der funkelnde Wagen ist ein attraktiver Blickfang, um die Schickeria an seinem Messestand mit den Porzellanvasen zu locken.

Weil deutscher Glamour so gut bei den Russen ankommt, hat die britische Immobilienfirma „Intermarksavills“ in der Ausstellungshalle am westlichen Stadtrand von Moskau ein kleines Stück Schwarzwälder Luxusleben aufgebaut. In Miniaturform kann sich der reiche Russe in
einem Glaskasten eine Baden-Badener Villa aussuchen. Die kann er dann in eineinhalb Jahren in der Datschen-Siedlung „Baden-Baden-Moskau“ am südwestlichen Stadtrand der russischen Hauptstadt beziehen.

Das Münchner Architekturbüro „Neumayer & Partner“ plant das Projekt. „Damit auch wirklich deutscher Luxus-Standard eingehalten wird“, erklärt die Verkaufsmanagerin Elena Karpowa. „Reiche Russen lieben Baden-Baden schon seit dem 19. Jahrhundert“, schwärmt sie. Sie wollen
so leben wie einst Iwan Turgenew und Fjodor Dostojewskij, die beide den Badeort im Nordschwarzwald besucht haben.

Mit Geld ist einfach alles möglich in Russland. Und wenn man tief genug in die russische Erde bohrt, findet man dort auch heiße Mineralquellen wie sie in Baden-Baden aus dem Boden sprudeln – oder eben jede Menge Öl.

"Die Fratze des Regimes"

„Die Fratze des Regimes“

Die russische Staatsmacht löst den Protestmarsch der „Nichteinverstandenen“ gewaltsam auf. Spezialeinheiten nehmen Ex-Schachweltmeister und Galionsfigur der Opposition, Garry Kasparow, fest. Eine Woche vor den Parlamentswahlen in Russland zeigt das Putin-Regime seine „Furcht erregende Fratze“.

Seine fünf breitschultrigen Bodyguards konnten Ex-Schachweltmeister und Oppositionspolitiker Garry Kasparow nicht beschützen. Mit brachialer Gewalt stürzen sich die mit Helmen, Schienbeinschonern und Schutzwesten gepanzerten, muskelbepackten Männer der Spezialeinheit OMON auf die Reporter und Kameramänner, die Kasparow umringen. Fotografen stürzen im Gemenge zu Boden, Kameras werden zertreten. Während die großen Männer der OMON seine Bodyguards in die Mangel nehmen, versucht Kasparow zu entwischen. Doch er hat keine Chance.

Die Demonstranten schreien im Chor „freies Russland, freies Russland – Russland ohne Putin“, als die aggressiven OMON-Einheiten den Oppositionspolitiker an den Armen packen und ihn zum Polizeibus schleifen. Der steht schon für ihn bereit. „Ihr Banditen“, schreit eine Rentnerin mit weißer Fellmütze den Kommandierenden der Spezialeinheiten des Innenministeriums an, als er die Wagentür hinter Kasparow schließt. „Ihr tretet die Demokratie mit den Füßen“, brüllt sie und zeigt dem breitschultrigen Mann die Faust. Kasparow schiebt von innen den Vorhang am Rückfenster des Polizeibusses zur Seite und winkt den Reportern und Demonstranten durch die schmutzige Scheibe hindurch zu. „Freies Russland, freies Russland“, fordern die Protestler.

Als der Bus mit Kasparow, der Galionsfigur des Oppositionsbündnisses „Anderes Russland“, abfährt, verstummen die Sprechgesänge. Aggressiv schupsen die gepanzerten Männer die Teilnehmer des Protestmarsches, Reporter, Fotografen und Kameramänner vor sich her. Sie bilden eine Kette, um die Straße zu versperren und den Demonstrationszug endgültig zu stoppen. Als ein junger Russe erneut die Parole „Russland ohne Putin“ anstimmt, wird auch er gepackt, davon geschleift und festgenommen.

Ziel des so genannten „Marsches der Nichteinverstandenen“ war es, eine Petition für faire Wahlen bei der Zentralen Wahlkommission im Stadtzentrum Moskaus abzugeben. Doch die Einheiten der OMON hatten das Ende der Mjasnizkaja Straße verbarrikadiert, die ins Zentrum führt, um den Demonstrationszug zu stoppen. Eine Woche bevor das russische Volk am 2. Dezember aufgerufen ist, ein neues Parlament zu wählen, hat die russische Staatsmacht vor den laufenden Kameras der in- und ausländischen Reporter gezeigt, was sie von Demokratie hält. „Geh von der Straße oder ich schlag dich mit meinem Knüppel“, fährt der Kommandiere der OMON einen Journalisten der englischen Tageszeitung „The Moscow Times“ an, als dieser ihn nach dem in der Verfassung verankertem Demonstrationsrecht fragt.

Dabei hatte alles friedlich begonnen. Am Nachmittag versammeln sich einige tausend Protestler zu einer genehmigten Kundgebung in der Sacharow-Straße. Kasparow, dessen Oppositionsbündnis „Anderes Russland“ nicht zu den Wahlen zugelassen ist, hält eine feurige Rede: „Dieses Regime hat keine Allergie gegen Blut!“, wettert er in das Mikrofon, als er auf den Krieg in Tschetschenien und das Geiseldrama in Beslan zu sprechen kommt. „Freies Russland“ antworten ihm die Demonstrationsteilnehmer. Auch Boris Nemzow, Spitzenkandidat der Oppositionspartei „Union der gerechten Kräfte“ (SPS) attackiert den Präsidenten und nennt ihn einen Zyniker: „Ole Ole Ole Ole – Russland ohne Putin, Russland ohne Putin“, stimmt er die Menge ein. Seine Parteianhänger schwenken mit Blau-Weiß-Roten Flaggen der SPS-Partei. Auf einem selbst gemalten Schild ist Putins Gesicht neben einem Hitler Portrait zu sehen: „Warm hast du deinen Bart abrasiert?“, steht darunter.

„Ich kann es nicht glauben, dass ihr Deutschen Putin einen Demokraten nennt“, klagt der 74-jährige Rentner Michail Tschudarkow. Er habe noch unter Stalin in der Armee gedient, erzählt er. „Den würde doch auch niemand als Demokraten bezeichnen“, regt sich der ehemalige Journalist und Gründer einer Bürgerrechtsbewegung gegen den Krieg in Tschetschenien auf. Er wird nächste Woche die SPS wählen, deren Umhang er über seinem schmutzigen Anorak trägt.

In der Sacharow-Straße in der Nähe der Metrostation Komsomolskaja haben sich an diesem grauen Wintertag rund 2000 Menschen versammelt, um ihren Frust und ihre Verzweiflung über die anstehenden Wahlen auszudrücken. Darunter sind nicht nur alte Menschen, die die Sowjetzeiten noch erlebt haben und sehen wie das Land zurück in die Autokratie fällt, sondern auch junge Aktivisten wie die Psychologie-Studentin Lena Ledweka.

Sie trägt eine Flagge mit den russischen Nationalfarben über den Schultern und hält die Verfassung wie eine Urne, die sie zu Grabe trägt, vor sich. „Wir haben faktisch keine wirklichen Wahlen nächste Woche. Das ist reine Farce“, erklärt sie. „Die Wahlen finden auf der Straße statt – nur hier können wir noch zeigen, dass wie gegen das Regime sind“, sagt sie und hält die Verfassung hoch. Eigentlich würde die 22-Jährige gerne ihr Kreuz neben der Option „gegen alles“ machen, so wie es früher auf den Wahlzetteln in Russland möglich war. Doch auch diesen Ausdruck des Protestes hat der Kreml abgeschafft, als 2005 das Wahlgesetz geändert wurde. Deswegen bleibe ihr nur eine Wahl, sagt sie: einen dicken Strich durch den gesamten Wahlzettel zu machen.

„Ich kann verstehen, wenn die Jugend enttäuscht ist und ins Ausland abwandert“, mischt sich Viktor Medwedowskij ein. In diesem Russland unter Putin gebe es für junge, kritische Leute faktisch keine Perspektiven, seufzt der 77-jährige Rentner. Deswegen hätten die klugen Leute schon lange das Land verlassen. „Wenn man den aggressiven OMON-Männern ins Gesicht guckt, dann kann man es sehen: die Furcht erregende Fratze des Regimes“, empört er sich und zeigt zu den gepanzerten Spezialeinheiten hinüber, welche die Kundgebung hermetisch abriegeln. Auch er wird nächste Woche bei den Wahlen für die Oppositionspartei SPS stimmen.

Doch was Menschen wie Medwedowskij und Tschurdakow mit dem Bürgerrechtler Simon Lebedowskij gemein haben, ist: Sie wählen SPS oder die demokratische Partei „Jabloko“, weil ihre Stimmen sonst kein Gehör finden. Der Pensionär Lebedowskij, ehemaliger Lehrer und Gründer des philosophischen Debattierclubs „Kontakt“ gibt zu, dass er sich bei keiner der beiden Parteien wirklich aufgehoben fühlt. Denn: „Sowohl der Vorsitzende der SPS, Nemzow, als auch der Jabloko-Chef, Gregorij Jawlinskij, sind machtbesessene Egomanen“, klagt er. Deswegen wird es auch nie gelingen, die beiden Parteien zu vereinigen und eine starke Opposition aufzubauen. Die Opposition, so wie sie heute in Russland auf die Straße gegangen ist, schwächt sich also vor allem selbst. Und auch Kasparow, der sich wie ein Märtyrer von der Staatsmacht festnehmen lässt, kann ihr dabei nicht helfen.

Der gezähmte Russen-Hitler

Der gezähmte Russen-Hitler

Der „Woschd“ – der „Führer“, wie die Anhänger der Liberaldemokratischen Partei ihren Vorsitzenden Wladimir Schirinowskij nennen, ist das enfant terrible des russischen Politschauspiels. Der ultranationalistische Demagoge will als Präsidentschaftskandidat antreten. Andrej Lugowoj, der mutmaßliche Mörder des mit Polonium vergifteten Alexander Litwinenko, ist der zweite Mann neben ihm.

Sobald die gepanzerte Staatslimousine von Wladimir Schirinowskij anhält, gehen alle in Habacht-Stellung. Der „Woschd“, übersetzt „der Führer“, rückt an. So nennen die Anhänger ihren Vorsitzenden der Liberaldemokratischen Partei Russlands (LDPR). Schon Josef Stalin hat sich so betiteln lassen. Der breitschultrige, glatzköpfige Leibwächter springt vom Beifahrersitz auf, hält dem Parlamentsabgeordneten die Autotür auf. Zwei schlaksige junge Helfershelfer holen Flugzettel und Parteiprogramme aus dem Kofferraum. Russische und ausländische Journalisten zücken die Mikrofone. Sie alle wissen: Wenn Schirinowskij in den Wahlkampf zieht, seine geballte Faust gegen seine Zuhörer erhebt und mit Worten um sich schießt, dann ist jeder seiner Sätze eine Kampfansage.

Der Unruhestifter wettert gegen Alles und jeden: In einem hautengen schwarzen Batman-Kostüm verkleidet rapt er mit einer Hip-Hop-Gruppe gegen Drogendealer und Sowjetnostalgiger oder er zettelt Prügeleien im Parlament an. Wenn er nicht mit ausfallenden Worten die Kommunisten anschreit oder Polizisten bei einer Straßenkontrolle als Banditen beschimpft, dann findet er seine Feinde im Ausland: Die Briten hätten die Revolution von 1917 angezettelt – genauso wie den Krieg in Tschetschenien. Die USA würden von Georgien aus den Kaukasus, den kaspischen Raum und den Nahen Osten kontrollieren und die weltweiten Ölreserven in Beschlag nehmen. Die Chinesen hätten die Absicht, Sibirien und den fernen Osten Russlands zu erobern. In der Welt von Wladimir Schirinowskij gibt es viele Bösewichte – und unter all diesen brüstet er sich dann als Saubermann.

Der Provokateur umgibt sich gern mit den Feinden des Westens, wie einst mit dem Diktator Saddam Hussein, den er öfter in Bagdad besuchte. Der eigentliche Alleinherrscher seiner Liberaldemokratischen Partei hat sich kürzlich einen in Russland populären zweiten Mann zur Seite gestellt: Andrej Lugowoj, den die britischen Behörden verdächtigen, den Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko in London mit radioaktivem Polonium vergiftet zu haben. „Seht her, das ist ein echter russischer Patriot“, preist ihn Schirinowskij und provoziert damit einmal mehr seinen derzeitigen Lieblingsfeind England, das die Auslieferung von Lugowoj fordert. Der angebliche Ex-Agent und heutige Unternehmer in der Sicherheitsbranche, Lugowoj, stellt den optimalen Kandidat, um den drögen Wahlkampf in Russland mit anti-westlichen Parolen aufzupeppen. Gleichzeitig wird er als zukünftiger Parlamentsabgeordneter strafrechtliche Immunität genießen und die Forderungen nach Auflieferung an England werden damit endgültig vom Tisch gekehrt.

Mit seinen rhetorischen und mitunter auch handgreiflichen Ausfällen hat sich der Demagoge in den 18 Jahren seiner Politikerkarriere international viele Namen gemacht: Als den „Russen-Hitler“ bezeichnete ihn die Bild-Zeitung. „Russlands ersten Staatsclown“ nennt ihn die die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Der 61-jährige Jurist und Doktor der Philosophie ist seit 1989 Vorsitzender der Liberal-demokratischen Partei Russlands (LDPR), die weder liberal noch demokratisch ist. Aus europäischer Perspektive gehört die LDPR ins ultranationalistische oder rechtskonservative Lager, auch wenn Schirinowskijs Ideologie nicht rassistisch ist. Als Sohn eines polnischen Juden und studierter Orientalist, der fließend Türkisch spricht, macht er sich für ein russisches Imperium stark, das sämtliche Turkvölker südlich von Russland integriert. „Der große Sprung nach Süden“ ist der Titel seines politischen Pamphlets, das in den neunziger Jahren für Wirbel sorgte. Darin zeichnete er seine Vision, in welcher „russische Soldaten ihre Stiefel im indischen Ozean waschen“. Auch zu den diesjährigen Parlamentswahlen hat er wieder eine 50-seitige Broschüre verfasst, die er stolz auf der Pressekonferenz bei der Zeitung „Argumenty i Fakty“ verteilt. „LDPR – die russische Macht“ heißt sie. Der Wahlslogan, mit dem sich Schirinowskij auf den Plakaten schmückt, lautet: „Nicht lügen – sich nicht fürchten!“ – auch auf diesen Postern hat er seine Hand zur Faust geballt.

Die LDPR brüstet sich damit, die älteste Partei Russlands zu sein. Offiziell wurde sie 1918 zum ersten Mal als so genannte nicht-kommunistische Partei registriert. Schirinowski hat sie 1989 nur neu auflegt. Sie hat nach eigenen Angaben 146 000 Mitglieder und ist in allen Bundesländern der Russischen Föderation vertreten. In ihrem 47 Seiten umfassenden Parteiprogramm zielt die LDPR darauf ab, ein russische Imperium ohne Sowjetnostalgie zu errichten: Eine starke Armee solle wieder her, damit Russland nicht untergehe.

Um seine Bedrohungsszenarien zu unterstreichen hebt der Scharfmacher während seiner Hasstiraden auf der Pressekonferenz in Moskau warnend den Zeigefinger, haut mit der Faust auf den Tisch und holt zwischendurch tief Luft bevor er wie ein Maschinengewehr loslegt: „Das sind doch alles Idioten!“, zieht er über seine Wahlkampfgegner her. Der Vorsitzende der Kommunisten, Gennadi Sjuganow, sei ein Marxist. Und Boris Gryslow von der Putin-Partei „Einheitliches Russland“ und Sergej Mironow von der „Partei Gerechtes Russland“ seien „Kremlowskijs“, wie er die Politmarionetten des Kremls nennt.

Dabei ist er selbst einer dieser Hampelmänner, die der Kreml installiert hat um die Parteienlandschaft aufzuwirbeln. Als ehemaliger Offizier der Sowjetarmee und juristischer Berater einer KGB-Propagandaeinheit steht Schirinowskij nach wie vor im Dienst des Inlandgeheimdienstes, auch wenn er dies bestreitet. Der Politharlekin mit den vielen Gesichtern schlägt damit mehrere Fliegen mit einer Klappe.

Als ultranationalistisches, radikales Schreckgespenst spielt der zweifache Präsidentschaftskandidat das enfant terrible der russischen Politszene. Im Westen hat dies den gewünschten Erfolg: Schirinowski ist der personifizierte Albtraum aller, die auf eine demokratische Entwicklung in Russland hoffen. Dagegen kann Putin wie einst sein Vorgänger Boris Jelzin als liberaler Demokrat glänzen. Noch dazu dienen die imperialistischen Parolen als innenpolitische Strategie, der nach wie vor starken Kommunistischen Partei Stimmen zu klauen. Auch bei den Parlamentswahlen im Dezember liefert sich die LPDR ein Kopf an Kopf Rennen mit den Kommunisten. Beide Parteien haben Chancen, wieder in die Duma einzuziehen.

Seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im März nächsten Jahres hat Schirinowksi bereits angekündigt. Dementsprechend wettert Wladimir „Wolfowitsch“ Schirinowskij einerseits gegen die Politik Putins, stimmt aber andererseits in der Duma wie ein gezähmter Wolf stets Kreml-konform ab. Als Chef einer angeblich liberaldemokratischen Partei hetzt er nicht nur gegen die Kommunisten, sondern auch gegen die „wahren“ Liberaldemokraten, Grigorij Jawlinski von der Oppositionspartei „Jabloko“ und Boris Nemzow von „Union der Rechten Kräfte“. Mit seinen simplen Parolen wie „gegen den schmutzigen, perversen Kapitalismus“ ist er der Blitzableiter für den Frust der einfachen Russen, die mit so Vielem unzufrieden sind. Mit nationalistischen und imperialistischen Losungen hat er seine Partei als Auffangbecken der rechtskonservativen Wähler etabliert. Die haben in ihm nicht nur eine aufmüpfige und erfolgreiche „Führerfigur“ gefunden, sondern die LDPR hat im Vergleich zu den rechtsradikalen Splittergruppen tatsächlich Erfolg, seit 18 Jahren im limitierten Politikspiel mitspielen zu dürfen und in der Duma vertreten zu sein. Über die „Nazisten, Faschisten, Hooligans und Skinheads“, die kürzlich in Moskau demonstriert haben, macht er sich lustig: „Die können noch so laut schreien, die haben doch nichts zu sagen“, winkt er spöttisch ab.

Alexej Mitrofanow, der ehemalige zweite Mann und Mitbegründer der LDPR, ist mittlerweile in die Kreml-Partei „Gerechtes Russland“ übergelaufen. Die LDPR befinde sich in einem „politischen Ghetto“ und es sei inzwischen „sinnlos“, Mitglied zu sein, erklärte Mitrofanow seinen Schritt. Seitdem nennt ihn der ehemalige Parteifreund Schirinowski einen „Verräter“. Auch hier zeigt sich Schirinowskijs Führungsstil: Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. So hat er sich beim Chef der Partei „Gerechtes Russland“ sogar offiziell bedankt: „Wir sind Herrn Mironow sehr dankbar, dass er uns von Alexej Mitrofanow befreit hat.“ Dieser habe die Partei in den Schmutz gezogen, weil er den Erotikfilm „Julia“ mitproduziert habe. Darin spielen die Porno-Darsteller die Anführer der Revolutionen in Georgien und der Ukraine: Michail Saakaschwili und Julia Timoschenko.


Putins Plan-Herrschaft

Putins Plan-Herrschaft

„Putins Plan“ heißt das Wahlprogramm der Kreml-Partei „Einiges Russland“. Doch dieser Plan existiert nicht. Eine Musikgruppe aus Wladiwostok macht den Wahlslogan jetzt zum Kultobjekt, denn „Plan“ ist auch das russische Slangwort für Marihuana.


Unter all den bunt bemalten hölzernen Matroschken an Irina Iwanowas Souvenirstand neben dem Roten Platz in Moskau gibt es eine, die verkauft sich besonders gut derzeit: Die Steckpuppe mit dem Portrait des Präsidenten Wladimir Putin. Gleich fünf davon stehen zwischen den Matroschken mit den Gesichtern von Lenin, Stalin, Harry Potter und John Lennon. „Es ist doch Wahlkampf“ lächelt Iwanowa und zeigt auf das riesige Werbeplakat hinter ihr: „Moskau wählt Putin“ steht dort.

Mit klammen Fingern öffnet sie die zweiteilige Präsidenten-Matroschka. Heraus nimmt sie eine kleinere Puppe mit Putin-Gesicht. Als sie diese Schachtelfigur aufmacht, lächelt einem erneut Putin entgegen. Wen wundert es: Selbst die kleinste, erdnussgroße Figur im Inneren des Puppenbauchs ist dem Präsidenten wie aus dem Gesicht geschnitten – Putin ist einfach überall. Die Parlamentswahl am 2. Dezember wird zum Referendum über ihn und seine politische Zukunft.

Der Präsident ist nicht nur zur Schaufensterpuppe, sondern auch zum Inhalt einer – seiner – Partei avanciert, deren Mitglied er nicht einmal ist. „Putins Plan ist Russlands Sieg“ lautet der Slogan, mit dem „Einiges Russland“ wirbt. Wer die Wahlkampf-Broschüre auffaltet, dem lächelt nach dem Matroschka-Prinzip der Präsident entgegen: Er steht in einem Ernte reifen Roggenfeld und blickt zuversichtlich in die Ferne. Doch was sind die Ziele und Inhalte von „Putins Plan“? Diese Frage kann kaum jemand beantworten. Wie bei der Matroschka ist auch der Putin-Wahlkampf eine Mogelpackung. Egal wie viele Schachtelpuppen man öffnet, heraus kommt immer eines: Leere – wie der Slogan „Putins Plan“.

Wer in der Parteizentrale anruft, bekommt eine Broschüre mit Präsidenten-Reden zugeschickt, denn der viel beworbene Plan Putin existiert in Wirklichkeit gar nicht. Wer auf der Webseite der Putin-Partei „Einiges Russland“ nach einem Programm sucht, findet deshalb nur ausschweifende Kommentare: „Wir brauchen eine Mehrheit in der Duma und in der Regierung, um Putins Plan zu erfüllen“, fordert der Partei-Vorsitzende Boris Gryslow. „Putins Plan zur Schaffung einer großen russischen Zivilisation“, preist der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Andrej Worobew. Darüber prangt die Überschrift „Einiges Russland erfüllt Putins Plan“.









Das Motto „Planerfüllung“ als Parteiprogramm erinnert an die Zeiten der Sowjetunion. Schon damals garantierte die Kommunistische Partei die Herrschaft ihrer Generalsekretäre – von Stalin oder Chruschtschow bis hin zu Gorbatschow – die verfassungsrechtlich keinerlei Amt inne hatten und dennoch alle Fäden im Staat zusammenhielten.

Politologen und Journalisten spekulieren über die Zukunft Putins, dessen letzte Amtszeit als Präsident laut Verfassung im Frühjahr ausläuft. Der Putin-Kult lässt jedoch erahnen, dass er nicht einfach von der politischen Schaubühne zurücktritt. Zum „Nationalen Führer“ hat ihn die ergebene Partei bereits auserkoren. So verläuft in Putins Russland derzeit alles nach Plan.

Damit ist der Grundstein zu einer charismatischen Herrschaft gelegt, die keine verfassungsrechtliche Legitimation mehr braucht.

Denn das Volk verlangt angeblich nach ihm, dem „Führer“ mit Charisma: Eine vom Kreml initiierte Massen-Bewegung mit dem Namen „Für Putin“ fordert Putin auf, weiter im Amt zu bleiben. 71.280 Anhänger haben bereits auf deren Webseite ihre Stimme abgegeben – es werden von Minute zu Minute mehr. Prominente und Intellektuelle wie Regisseur Nikita Michailkow und Albert Tscharkin, Präsident der Sankt Petersburger Kunstakademie, flehen Putin in einem Brief inbrünstig an, zu bleiben. Das erinnert stark an die Treue-Rituale der Stalinzeit, als der „Führer“, Stalin, mit Bittbriefen überhäuft wurde.

Wladislaw Surkow, der Puppenspieler und Chefideologe im Kreml, dessen Erfindung die Partei „Einiges Russland“ ist, hat also lediglich alte Tricks wieder aufgelegt: die Einigung des Volkes unter einer Vaterfigur. Ähnlich wie in den dreißiger Jahren das Politbüro um Stalin einen Personenkult gesponnen hat, so erdichtet heute das moderne Politbüro, die Präsidialadministration und deren Vizechef Surkow, den Putin-Kult um den Präsidenten. Wie die Sowjet-Partei einst den Marxismus-Leninismus, so predigt die Partei „Einiges Russland“ heute „Putins Plan“ als Weg in eine bessere Zukunft. Folgt darauf der Putinismus?

Der Plan ist im Wahlkampf so allgegenwärtig, dass sogar die Opposition darauf anspringt.
Die „Kommunistische Partei“ wirbt mit dem Slogan „Plan des Volkes“ und die Oppositionspartei „Union der Rechten Kräfte“ entwarf den Spruch „Putins Plan ist Russlands Schritt zurück“. So wirkt auch ihr Gegenplan nur wie eine hohle Matroschka und bietet doch keine Alternativen zu Putins Plan-Herrschaft.

Zumindest durch Wortspielereien der russischen Jugend wird dem Plan doppeldeutiger Sinn eingehaucht. Eine Rockgruppe aus Wladiwostok hat einen Song herausgebracht: „Der Präsident ist zufrieden / Er betrachtet Russland als ein Paradies / Putins Plan ist die Schlagzeile / Ist das nicht heiß?“, lautet der Refrain. Der Rap parodiert und zelebriert zugleich die geistigen Verirrungen der Putin-Fans. „Plan“ ist das russische Slang-Wort für Marihuana. Im Video-Clip der Band „Koreiskije LEDschikij“, „Koreanische Flieger“ steht Putin in einem Ernte reifen Cannabis-Feld und guckt bekifft in die Ferne.

Montag, 12. November 2007

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Samstag, 10. November 2007

Die Putinjugend rüstet auf

Die Putinjugend rüstet auf

Von Simone Schlindwein, Moskau

10.000 Nashi-Aktivisten campen am Seliger See außerhalb von Moskau. Mit militärischem Training und ideologischen Parolen rüsten sie sich für die Parlaments-Wahlen im Dezember dieses Jahres – und sind bereit, gegen eine mögliche Revolution in Russland zu kämpfen.

Der militärische Drill der russischen Jugendorganisation „Naschi“ beginnt pünktlich in der Früh. Um acht Uhr morgens im Camp am Seliger See, rund 350 Kilometer nordwestlich von Moskau, jagt die Wachmannschaft die Aktivisten mit Trillerpfeifen aus den Schlafsäcken. Rund 10.000 treue Putin-Anhänger stehen ohne zu Murren zur Morgengymnastik stramm: „Los, los, los!“, kommandiert Naschi-Führer Wasilij Jakemenko über die Lautsprecheranlage. Laute Techno-Musik dröhnt über den Seliger See. Die Naschi-Mädchen joggen zur großen Bühne im Zentrum des riesigen Zeltlagers. Im einheitlichen, rot-weißen Sportdress werfen sie alle gleichzeitig die Arme in die Luft: „Und eins, und zwei, und drei…!“, es folgt eine Stunde Aerobic, während die Jungs ihren Zehn-Kilometer-Dauerlauf durch den Wald antreten. Im Gleichschritt, natürlich.

Das Sommerlager der Putinjugend „Naschi“ (die „Unsrigen“) findet in diesem Jahr zum dritten Mal statt. Doch dieses Jahr ist es anders: größer, organisierter, ideologisch ausgefeilter. Versammelten sich im vergangenen Jahr 5000 am Seliger See, so sind es diesen Sommer doppelt so viele. Die rund 10.000 Teilnehmer sind jung, ehrgeizig, strebsam – zwischen 16 und 26 Jahr alt. Alkohol und Zigaretten sind strikt verboten im Lager – militärischer Drill, Disziplin und Blutspenden dagegen an der Tagesordnung.

Täglich verkündet der 36-jährige Naschi-Führer Jakemenko eine neue Parole. Heute ist der „Tag der Wahl“. Die Aktivisten der Untergruppe „Naschi-Wahlen“ veranstalten Diskussionsforen und Gruppengespräche zum Thema „russische Parlamentswahlen 2007 und Präsidentschaftswahlen 2008“. Politische Unterstützung bekommen sie dabei, wie auch schon in den vergangenen Tagen, von der obersten Machtspitze Russlands. Der Vorsitzende der Putin-loyalen Partei „Vereinigtes Russland“, Andrej Worobew, und der Vorsitzende des zentralen Wahlkomitees, Wladimir Tschurow, sind aus Moskau angereist, um an den Foren teilzunehmen. Am Abend traf sich auch Präsident Wladimir Putin mit Naschi-Vertretern, im Garten seiner Residenz nicht weit vom Seliger See. In eindringlichen Worten machte er deutlich, wie wichtig die Aktionen seiner Jugendorganisationen für die bevorstehenden Wahlen und die Zukunft des Landes seien.

Am vergangenen Wochenende waren auch die beiden Vize-Ministerpräsidenten Sergej Iwanow und Dmitrij Medwedew zu Besuch im Zeltlager. Locker in Jeans gekleidet, ohne Krawatte und mit offenen Hemdsärmeln stellten sie sich der Putin-Jugend als „Dmitrij und Sergeij“ vor. Ihre Botschaft an die Putinjugend war eindeutig auf die demografische Krise Russlands bezogen: „Auch wenn ihr noch jung seid, ist es an der Zeit, euch Gedanken über eure Rente zu machen, indem ihr eine große Familie gründet, die euch im Alter versorgt“, mahnte Medwedew.

Es ist immer gut, per „Du“ mit den Politikern im Kreml zu sein. So verwundert es nicht, dass heute, zwei Tage nachdem der ehemalige Verteidigungsminister Iwanow sich mit Vornamen der Putin-Jugend vorgestellt hat, die russische Luftwaffe ihre Flugshow über dem Naschi-Camp zum Besten gibt. Pünktlich zur Mittagspause erreichen sechs SU-27 Kampfflugzeuge den strahlend blauen Himmel über dem Seliger See. Völlig gebannt verfolgen die 10.000 Naschi-Aktivisten die Luftschlacht der russischen Eliteeinheit „die Falken Russlands“, die 600 Kilometer südlich stationiert ist. Wer die eindrucksvolle Flugshow bezahlt, darüber geben die Luftstreitkräfte keine Auskunft, auch das Verteidigungsministerium blockt jede Nachfrage ab.

Über die Finanzierung der Putinjugend und des Sommercamps spricht man auch bei Naschi nicht gern. Lieber hüllt sich Naschi-Pressesprecherin Elena Jefremowa in Schweigen und betont dagegen die guten „persönlichen“ Verbindungen in die Präsidialadministration Wladimir Putins. Der Vize-Chef der Präsidialadministration und Chefideologe im Kreml, Wladislaw Surkow, gilt als geistiger Ziehvater der Jugendpartei. Naschi-Anführer Jakemenko kennt ihn von einem Praktikum im Kreml. „Wir präsentieren immer Wasilij Jakemenko unsere Projekt-Ideen und wenn er sie für gut hält, dann kümmert er sich um die Finanzierung“, weicht Jefremowa aus.

Surkow gilt in Russland als Puppenspieler, bei dem im Hintergrund die Fäden der Macht zusammenlaufen. Der Marketingexperte ist eine Schlüsselfigur in der russischen Innenpolitik. Ihm wird die Zusammenlegung der beiden Parteien „Einheit“ und „Vaterland Ganz Russland“ zur zentralen Partei der Macht „Vereinigtes Russland“ zugeschrieben, die bei den Parlamentswahlen 2003 zwei Drittel der Duma-Sitze erringen konnte. Surkow hat im Jahr 2006 der russischen Öffentlichkeit die Vorstellungen der „Souveränen Demokratie“ präsentiert. Eine Analyse der Russland-Expertin Margareta Mommsen zeigt, dass dieses politische Konzept die russische Antwort auf die Revolutionen in Georgien 2003 und der Ukraine 2004 ist.

Mit dem Leitmotiv der „Souveränen Demokratie“ brüskiert sich auch Naschi-Anführer Jakemenko, wenn es um die Ziele der Putinjugend geht. „Unsere Ideologie ist: Russland soll wieder stark werden, niemand soll Russland bedauern“, wettert er in einem Interview mit der Zeitung „Argumenty i Fakty“. Er selbst hat vergangene Woche seinen Rücktritt als Anführer der Jugendorganisation erklärt. Er sei zu alt für Naschi und wolle der jungen Generation Platz machen, meint er. Doch es gibt bereits Gerüchte, dass Jakemenko in den Kreml abberufen wurde.

Mit aggressiven Parolen rüsten sich die jungen, vaterlandstreuen Aktivisten gegen eine mögliche Revolution in Russland vor den anstehenden Wahlen. Im April haben Naschi-Anhänger in Moskau über 10.000 SIM-Karten an junge Russen verteilt, mit denen man direkten SMS-Kontakt zum Kreml herstellen kann. „Die Leute sollen wissen, was sie tun sollen, um ihr Vaterland zu verteidigen, wenn Radio und Fernsehen nicht mehr funktionieren. Wir bereiten sie auf eine anstehende pro-westliche Revolution vor“, erklärt die Naschi-Anhängerin Tatjana Matischa. Sie hätten die Jugendlichen instruiert, schon beim ersten Verdacht einer Revolution eine Textnachricht an den Kreml zu schreiben. Im Mai sei sogar ein Trainingscamp zur Niederschlagung einer Revolution veranstaltet worden, sagt sie.

In den vergangenen Monaten organisierten die Putin-treuen Aktivisten eine Reihe quasi-militärischer Trainingseinheiten: Im Juni hat die Gruppe „Naschi-Armee“ ein Trainingscamp 25 Kilometer außerhalb von Moskau veranstaltet. Auf der Tagesordnung standen Schießübungen mit Kalaschnikows und psychologische Schulungen. „Der Feind benutzt Methoden der Manipulation und Provokation gegen uns“, ist die 22-jährige Matischa überzeugt: „Wir müssen gewappnet sein, müssen kämpfen, wenn es verlangt wird, und wir müssen die Prinzipien unserer Regierung verteidigen, wenn es nötig ist.“

Wer die so genannten Feinde sind, das wird im Naschi-Lager am Seliger See groß und deutlich sichtbar. Dort hängen überdimensionale Poster unter der Überschrift „Rotlichtmilieu“. Darauf zu sehen sind die Vertreter der Opposition wie der ehemalige Ministerpräsident Michail Kasjanow, Schachweltmeister Garri Kasparow und Eduard Limonow, Gründer der National Bolschewistischen Partei Russlands – sie sind halbnackt in Frauenkleidern als Prostituierte abgebildet. „Das sind die Leute, die Russland verkaufen!“, macht die Naschi-Pressesprecherin klar.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,496329,00.html

Geburtstag einer Todesmaschine

AK-47

Geburtstag einer Todesmaschine

Von Simone Schlindwein

Kein Gewehr ist weiter verbreitet, mit keinem haben Menschen öfter getötet als mit der AK-47, besser bekannt unter dem Namen ihres Erfinders Michail Kalaschnikow. Vor 60 Jahren wurde das erste Exemplar gebaut, was in Moskau pompös gefeiert wurde.



"Wenn die Deutschen nicht gewesen wären, hätte ich die Kalaschnikow nicht gebaut!“, sagt Michail Timofejewitsch Kalaschnikow. Er ist der Vater des meistverkauften Exportproduktes der Sowjetunion und Russlands. Der 87jährige steht ganz im Mittelpunkt, als in Moskau die pompösen Feierlichkeiten zum 60sten Jahrestag des Sturmgewehres beginnen. Marschmusik, Feuerwerk und Kanonenschüssen machen den Auftakt.

Russland feiert die „AK-47“. Das ist die Abkürzung der russischen Bezeichnung „Awtomat Kalaschnikowa Obrasza 1947“, was soviel heißt wie „das Muster des Automats von Kalaschnikow aus dem Jahr 1947“. Den ersten Prototypen übergibt Kalaschnikow voller stolz dem Museum der sowjetischen Streitkräfte als Ausstellungsstück. Es ist sein Lebenswerk.

Doch die scheinbar so große Geste des alten, tattrigen Waffenkonstrukteurs ist im Grunde genommen reine PR. Veranstaltet von Russlands größter Waffenexportfirma Rosoboronexport. Er ist nur die Schaufensterfigur. Für eine Institution, die nicht gern selbst in der Öffentlichkeit steht. Der staatliche Konzern ist eng verbandelt mit dem russischen Auslandsnachrichtendienst SWR, dem Nachfolger der Auslandsabteilung des KGBs. Noch dazu ist der Chef von Rosoboronexport, Sergej Tschemesow, ein früherer Geheimdienstkollege von Präsident Wladimir Putin. Sie kennen sich aus DDR-Zeiten. Gemeinsam waren sie dort in den achtziger Jahren im Einsatz.

Es ist eine Geschichte voller positiver Superlative, die an diesem 60sten Jahrestag der AK-47 präsentiert wird. Kein Wort darüber, dass die „Kalaschnikow“ und deren Nachfolgemodelle das meistgebrauchte Gewehr der Welt ist. Eine Massenvernichtungswaffe also, denn mit ihr wurden mehr Menschen getötet als mit der Atombombe. In fast allen Kriegen der Welt kam sie seit den 50er Jahren zum Einsatz: in Korea, Vietnam, Afghanistan, Kongo, Mosambik, Sierra Leone, auf dem Balkan – die Liste lässt sich ins Unendliche fortsetzen.

Fragt man Michail Kalaschnikow nach seinem Gewissen, so antwortet er: „Ich habe doch mein Vaterland verteidigt. Ich bin ein Patriot.“ Und so denken auch die russischen Soldaten, die die Feierlichkeiten im strengen Gleichschritt begleiten: „Er ist unser Held, natürlich!“

Er ist ein Vorzeigeheld. Die Marketingabteilung von Rosoboronexport hat ihn vorgeschoben, um möglichst viele internationale Journalisten zur Veranstaltung zu locken. So läuft auch zuerst ein 20minütiger Werbefilm über die Kalaschnikow-Produktion in der Waffenschmiede im Ural. Erst nach einer überschwänglichen Ansprache des Rosoboronexport-Vertreters über die heldenhaften Leistungen Kalaschnikows für das Vaterland darf dann der gebrechliche Vorzeige-Azket mit zittrigen Händen und gebrochener Stimme endlich aus seinem Leben erzählen.

Die Deutschen, so sagt er, haben in seinem Leben immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt: Zuerst hätte der Angriff auf die Sowjetunion verhindert, dass er Ingenieurstechnik studiere. Dann sei er im Krieg als Panzerkommandant von einer deutschen Kugel getroffen und schwer verwundet worden.

„Die Deutschen hatten ja schon automatische Waffen. Damals, 1941“, erklärt er plötzlich ganz aufgeregt. Im Lazarett habe er einen Entschluss gefasst. Mühsam habe er sich Materialien und Werkzeug zusammengesucht: „Ich musste doch meinen Kameraden da draußen helfen!“

Der Autodidakt Kalschnikow fing an, das erste sowjetische Sturmgewehr zu basteln. 1944 schickte er seinen Vorschlag an das Institut für Kriegstechnik in Moskau. „Nach drei Tagen bekam ich einen Brief. In dem stand, dass mein Gewehr das schönste gewesen sei“, betont er mit einem stolzen Lächeln. „Dabei hatte ich nicht einmal Patronen auftreiben können, um auszuprobieren ob es auch wirklich funktionierte.“

So stieg Kalaschnikow nach Kriegsende schnell zum führenden Waffenkonstrukteur auf, erhielt zweifach den sowjetischen Orden "Held der Arbeit", die er auch bei den Feierlichkeiten am Revers trägt. In seinem Konstrukteursbüro in der Waffenschmiede im Ural waren Zwangsarbeiter aus Deutschland im Einsatz, als die Serienproduktion 1947 in Gang kam. Produziert wird sie dort bis heute. In derselben beschaulichen Stadt Ischewsk, von wo aus sie den Weltmarkt eroberte.

Es wird geschätzt, dass heute bis zu 100 Millionen AK-47 weltweit im Umlauf sind. Der Großteil stammt aus sowjetischer, später russischer Produktion. Einige Länder des ehemaligen Warschauer Paktes besitzen Lizenzen, Nachahmermodelle zu fertigen. Fast 60 Armeen rüsten noch immer ihre Soldaten damit aus.

Die Kalaschnikow ist in Russland nach wie vor ein Symbol: ein Sinnbild für Patriotismus. Doch anderswo steht sie vor allem für Bürgerkrieg, Befreiungskampf und Terrorismus. Die enorme Widerstandsfähigkeit der einfachen AK-47 bei Regen, Schlamm, Sand und Schnee macht sie zur liebsten Waffe der Rebellenbewegung. Aus einem einfach Grund: Sie ist billig und schlichtweg unkaputtbar. Im Kongo werden heute noch Modelle aus den 50er Jahren auf dem Schwarzmarkt verkauft. Die Kindersoldaten, die damit ausgerüstet werden, sind oft nicht größer und werden auch nicht älter als das Gewehr, das sie stolz über den Schultern tragen.

Auch Terroristen schmücken sich gerne mit der „Kalaschnikow“. Auf den Flaggen von Mosambik, Osttimor und Zimbabwe ist das Gewehr als Zeichen der Befreiungsbewegung zu finden. Selbst Osama bin Laden ließ sich mit der „Kalaschnikow“ in der Hand fotografieren.

Sie war ursprünglich zur Verteidigung des sowjetischen Vaterlandes gebaut worden. 60 Jahre später wird sie vor allem in denjenigen Kriegen eingesetzt, die nicht zwischen Staaten geführt werden. In den Kriegen, die jenseits der internationalen Regeln stattfinden. Wie eine Studie der „Federation of American Scientists“ (FAS) besagt, kann eine UN-Konvention über die Nichtverbreitung von Handfeuerwaffen ein entscheidender Schritt sein, internationalen Terrororganisationen den Nachschub abzuschneiden. Doch hier stellen sich besonders die beiden Vorreiterstaaten im Kampf gegen den Terrorismus quer: die USA und Russland.

http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1518,493106,00.html

Die Große Verdrängung von 1937

Die Große Verdrängung von 1937

Von Simone Schlindwein, Moskau

Im Westen sprechen Historiker vom Großen Terror. Im russischen Volksmund heißt die Schreckenszeit des Stalinismus einfach „37“. Denn 1937, heute genau vor siebzig Jahren, begannen die Massenerschießungen mit dem Befehl Nummer 00447. 1,5 Millionen Menschen wurden in den darauf folgenden Monaten verhaftet, davon 700.000 exekutiert.












„Ein einziger Befehl hat mich meiner Kindheit beraubt“, sagt die Rentnerin Olga. Sie ist 72 und lebt auf einer kleinen Datscha in Moskau. Sie hat Kinder und Enkelkinder um sich herum. „Die haben eine schöne Kindheit heute“, nickt sie stolz und ist glücklich.

Olgas Kindheit allerdings war ein Trauma. Sie weiß nicht, wo sie geboren wurde. Sie kennt ihren damaligen Namen nicht. Sie war gerade zwei Jahre alt, als ihre Eltern eines Nachts einfach verschwanden. Wohin, das hat sie nie erfahren. Vermutlich wurden sie Opfer der landesweiten Repression. Nach dem Warum hat Olga nie gefragt. „Es war die Zeit der Lügen. Damals, Du weißt schon: 37.“ 1937 war das Jahr, in dem der Stalin-Terror seinen Höhepunkt erreichte und das Jahr, in dem Olga in ein Waisenhaus nach Norilsk, eine Stadt am nördlichen Polarkreis, verschleppt wurde und später gezwungen wurde im dortigen Nickelkombinat zu malochen – wie tausende anderer Zwangsarbeiter auch. „Wir haben immerzu gefroren, denn dort ist es im Winter bitterkalt und auch im Sommer wird es nie wirklich warm“, erinnert sie sich.

Olgas Schicksal ist eines von Zehntausenden. Bei der Nichtregierungsorganisation Memorial, die 1989 aus einer Bürgerinitiative zur Errichtung von Denkmälern für die Opfer der Repressionen hervorgegangen ist, meldeten sich allein im vergangenen Jahr hunderte Waisen wie Olga. In den Datenbanken von Memorial, die nun mehr als zwei Millionen Kurzbiografien von Opfern enthalten, machen sie sich auf die Suche nach dem Schicksal ihrer Eltern.

Der berüchtigte Befehl, der Olgas Kindheit zerstörte, trug die Nummer 00447. Ihn hat der Chef des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKVD), Nikolai Jeschow am 30. Juli 1937 dem Politbüro vorgestellt. Damit begann offiziell die Zeit des Großen Terrors, der bis 1938 anhielt. Historiker nennen diese Periode auch die „Jeschowtschina“, denn Jeschow war Stalins loyaler Exekutor und Organisator der Massenerschießungen.











Der Titel des Befehls lautete: „Über die Repressionsmaßnahmen gegen ehemalige Kulaken, Kriminelle und andere antisowjetische Elemente“. Wörtlich heißt es: „Vor den staatlichen Sicherheitsorganen steht nun die Aufgabe, schonungslos die gesamte Bande antisowjetischer Elemente zu zerschlagen, das arbeitende Sowjetvolk vor ihren konterrevolutionären Intrigen zu schützen und schließlich, ein für allemal, ihrer gemeinen Zersetzungsarbeit gegen die Grundlagen des sowjetischen Staates ein Ende zu bereiten.“

Insgesamt hat der NKVD nach heutigem Kenntnisstand in 14 Monaten rund 1,5 Millionen Menschen verhaftet, zirka 700.000 von ihnen wurden erschossen.














Auf den Befehl 00447 folgte im August Jeschows Befehl Nummer 00486 „Über die sozial gefährlichen Kinder“. Das waren Kinder wie Olga: Waisenkinder, deren Eltern als Schädlinge des Sowjetvolkes ins Lager kamen oder erschossen worden waren. Kinder über 15 Jahre fanden sich im Gulag wieder. Vor ihnen lagen acht bis zehn Jahre Zwangsarbeit. Die jüngeren Kinder schickte der NKVD in spezielle Waisenhäuser wie das in Norilsk.

„Diese Kinder sind unter traumatischen Bedingungen aufgewachsen“, erklärt Memorial-Mitarbeiterin Irina Scherbakowa. Viele könnten bis heute nicht darüber sprechen, stellt die gelernte Historikerin fest, die bei Memorial ein Oral History Projekt betreut und derzeit die Lebensläufe dieser „Kinder von 37“ untersucht. „Dabei haben gerade diese Kinder eine große Intellektuellen-Karriere in den 60er bis 80er Jahre der Sowjetunion gemacht“. Sie hat hunderte von Interviews mit Menschen dieser Generation geführt und muss immer wieder feststellen: Besonders bei den Kindern von 37 sei der Drang nach Anpassung sehr groß. „Aus vielen sind echte Patrioten geworden. Bis heute haben sie Angst, sich gegen die Staatsmacht aufzulehnen.“

Es gehe bei diesem Projekt nicht nur um die Kinder von 37, sondern um die Jugendlichen von heute, betont Scherbakowa. Es handle sich um Erzählungen von Leuten, die damals im gleichen Alter waren wie die Jugendlichen heute. Das schaffe unter Jugendlichen ein Interesse für diese Geschichte und eine Gelegenheit, diese beiden Generationen zusammen zu führen. „Bis heute findet in den Geschichtslehrplänen der Große Terror nicht wirklich statt“, klagt sie, im Gegenteil. Der Staat versuche mit einer überschwänglichen Patriotismus-Kampagne wie beispielsweise mit der Jugendbewegung „Naschi“ die Jugend wieder mit den Symbolen des „ewigen Siegesstaates“ zu blenden. Präsident Wladimir Putin, der sagt, dass sich die Russen ihrer Vergangenheit nicht schämen sollen, hat vor einigen Wochen in einem Treffen mit Vertretern des Bildungsministeriums und Geschichtslehrern angeordnet, aus den Geschichtslehrbüchern solle der negative Pathos gestrichen werden.

Laut Scherbakowa zeigt sich in Putins Geschichtspolitik die Angst des Staates, dass die Wahrheit über den Terror der 30er Jahre, die Menschen zu Anti-Patrioten mache. Dabei ließe sich die Wahrheit nicht wegstreichen: „Es gibt wohl keine Familie in Russland, die nicht in irgendeiner Weise in die Repressalien verwickelt war.“ Das zeige auch der Band aus dem Schülerwettbewerb "Russische Jugendliche über den Grossen Terror heute“, den Memorial im September herausgeben wird. Darin stellen Schüler fest: „Trotz allem war meine Großmutter eine Patriotin, sie liebte ihr Vaterland.“

Diese Generation heutiger Großeltern, die zu den Kindern von 37 gehört, demonstriere laut Scherbakowa das wahre Problem Russlands: „Die Unfähigkeit zu trauern und die unsagbare Fähigkeit zu verdrängen.“ Auch Olga spricht bis heute nicht gerne von ihrem Leidensweg. Auch ihre Kinder wissen nur wenig über die Vergangenheit der Großmutter, sie will ihnen dieses traurige Schicksal nicht zumuten, sagt sie. Im Alter müsse man sich an die guten Seiten des Lebens erinnern, ist sie überzeugt, „man könne nicht ein Leben lang Opfer bleiben. „Und Stalin ist schon lange tot“, winkt sie ab.



http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,497530,00.html

Das Haus des Schreckens

Das Haus des Schreckens

Im mächtigen Wohnkomplex schräg gegenüber des Kreml leben die Opfer der Stalinschen Säuberungen Tür an Tür mit ihren Henkern. Im Jahr 1937 verschwinden dort ganze Familien spurlos, die Wohnungen stehen leer.










Immer wenn der Wind aus Südwesten kommt, zieht der süße Duft der Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ in die Treppenaufgänge der Wohnanlage gegenüber des Kreml. Wie ein Dampfer thront sie am Moskau-Fluss. „Haus am Ufer“, sagt der Volksmund. Im Herbst 1937 weht der kalte Wind nicht nur den Schokoladengeruch, sondern auch bunte Blätter in die Korridore. Der graue Komplex ist fast leer geräumt - sechs Jahre nachdem die Parteikader dort eingezogen sind. Wohnungstüren stehen offen, Fenster schlagen auf und zu. „Es war ein schreckliches Jahr“, wispert die 78-jährige Rada Chruschtschowa, Tochter des Stalin-Nachfolgers Nikita Chruschtschow.












Sie sitzt gedankenverloren auf dem Diwan im Salon ihrer Wohnung. An der Wand hängt das Portrait ihres Vaters, einst der mächtigste Mann der Sowjetunion. Die kleine, weißhaarige Frau ist sieben Jahre, als ihre Nachbarn verschwinden. „Es war so dunkel im Haus, wenn wir am Abend im Hof spielten“, erinnert sie sich. „Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht.“













Wie Rada tobt auch die achtjährige Margarita Michailowa zwischen den Springbrunnen umher. Am liebsten spielt sie „Kosaken und Räuber“. Wie kein anderes Kind kennt sie die Verstecke in den verschachtelten Treppenhäusern. Das Mädchen mit den blauen Augen lebt im Seitenflügel gegenüber des Treppenaufgangs der Chruschtschow-Familie. Die Nachbarn sind verschwunden, Stille herrscht im Flur. An Rada kann sich die heute 79-jährige Michailowa nicht erinnern. Doch ihre Väter kannten sich gut.

Nikita Chruschtschow stieg 1934 zum ersten Sekretär des Parteikomitees von Moskau auf. Der mächtigste Mann der Hauptstadt ist für Neubauten zuständig. Margaritas Vater, Wassilij Michailow, der als Bauleiter für das Jahrhundertprojekt „Palast der Sowjets“ verantwortlich ist, muss seinem Nachbar Chruschtschow immer wieder die Pläne vorlegen. Ganz im Geist der neuen Zeit wollen sie das höchste Gebäude der Welt bauen - mit einer gigantischen Leninstatue an der Spitze.

Als die dunkel gekleideten Männer des Geheimdienstes NKWD im September 1937 ihren Vater verhaften, ist Parteisekretär Chruschtschow Margaritas letzte Hoffnung. Am Abend wartet sie mit ihren Schwestern Julia und Nadja und der Mutter Nadeschda vergeblich auf den Vater. Doch der große Mann mit dem Schnauzbart kommt nicht nach Hause. Stattdessen dringen vier Männer mit Lederjacken in die Wohnung ein. Sie beschlagnahmen die Tagebücher der Großmutter, zerreißen die Gedichte der 15-jährigen Schwester, die sie in ihre Schulhefte gekritzelt hat. „Sie haben meine Puppe gegen die Wand geworfen", erinnert sich die alte Dame. „Der Porzellankopf zersplitterte.“ Sie hat Tränen in den Augen. Damals beschimpfen sie die Männer als „Missgeburt eines Volksfeindes“.

Am nächsten Tag schreibt das verzweifelte Mädchen Chrustschow einen Brief, dem Chef ihres Vaters. Stundenlang hockt sie vor der Wohnung Nummer 196, bis der Kahlköpfige mit seinen Leibwächtern erscheint. „Schafft sie weg“, kommandiert er. Was Margarita nicht ahnt: Der Stalin-treue Moskauer Parteichef hat die Festnahme selbst angeordnet. Als ihm das Politbüro eine Quote vorgibt, wonach er 35 000 „Volksfeinde“ zu verhaften hat, von denen 5 000 zur Exekution vorgesehen sind, meldet er die Überfüllung des Solls: 41 000, 8500 Hinrichtungen. So verdient sich der Stalin-Nachfolger seinen Posten als Parteichef der Ukraine, den er 1938 antritt.

Im „Haus am Ufer“ leben Opfer und Täter Tür an Tür: Sie speisen in derselben Kantine, lassen in derselben Wäscherei ihre Hemden reinigen. Ihre Kinder spielen im selben Innenhof, sie spüren, dass etwas Schreckliches vor sich geht. „Sprecht mit niemandem über irgendwas“, hat der Vater Margarita eingebläut. Ihre Freundin Maja, die Tochter des Volkskommissars für das Eisenbahnwesen, Lasar Kaganowitsch, flüstert ihr zu: „Das Haus ist voller Spitzel.“ Der Portier an der Treppe, der die Gäste in ein dickes Buch einträgt, der Fahrstuhlwärter, der jeden bis zur Wohnungstür begleitet.

Es gibt kein Wohngebäude in Moskau, in dem Utopie und Schrecken der Stalinzeit bis heute so deutlich zu spüren sind. Der 1931 fertig gestellte Wohndampfer galt als Flagschiff und Versuchslabor einer neuen, kommunistischen Sozialgemeinschaft. Die Führungsriege der Partei, des Militärs und der Regierung zieht in das Bonzenbollwerk ein. Und auch Stalin selbst, der Initiator des Terrors, geht in dem Wohnblock ein und aus, um seine Tochter Swetlana zu besuchen.

In der Gesellschaft der Zukunft soll es keinen Individualismus mehr geben. Deswegen sind alle Wohnungen gleich geschnitten und mit einheitlichen, sorgfältig nummerierten Möbeln bestückt. „Wir lebten im Luxus, hatten einen Lift und warmes Wasser“, erinnert sich Michailowa. Sie spielt gern mit der Wählscheibe des modernen, schwarzen Telefons, die so schöne Geräusche macht. Während das Volk hungert, wird Rada Chruschtschowa geschickt, um das Essen aus der Kantine zu holen, der „Küchenfabrik“. Dort gibt es Milch und Fleisch. Die bolschewistische Elite trifft sich im hauseigenen Theater oder besucht das Kino „Udarnik“ an der Rückseite des Gebäudes. Das „Haus am Ufer“ ist eine Stadt in der Stadt.

Dann kommt die Zeit, in der die Verschwörungsmanie und Paranoia vor dem Klassenfeind ihren Höhepunkt erreichen. Der Bau mit den doppelten Wänden, den kontrollierbaren Treppenaufgängen und den abgehörten Telefonleitungen entpuppt sich als Menschenfalle. Von Anfang an war alles auf Überwachung angelegt. Nichts passiert unbemerkt. So beobachtet immer jemand, wie die Frau des Marshalls Michail Tuchatschewskij in Lederjacke über den Hof spaziert, um im Keller auf dem Schießstand zu trainieren.

Oder wie der Volkskommissar für innere Angelegenheiten und Chef des Geheimdienstes, Nikolaj Jeschow, betrunken in Richtung Aufgang Nummer acht wankt. Saufexzesse und sein ausschweifendes Sexualleben machen ihn angreifbar, 1939 wird auch er hingerichtet - von seinen eigenen Männern. In diesem Mikrokosmos des Stalinismus beginnt die Revolution ihre Kinder zu fressen.

Ende des Jahres 1938 steht jede fünfte Wohnung leer. Das Flagschiff wird zur Titanic des Sowjetkommunismus. Von einstmals 2745 Bewohnern verhaftet der Geheimdienst zwischen 1934 und 1953 insgesamt 887 Hausbewohner. Die Hälfte wird erschossen.

Stalins Schergen löschen ganze Familien aus. Nach der Verhaftung von Margarita Michailowas Vater verfrachten die Männer ihre Mutter zuerst in eine Wohnung am Gorkij Park. Sie stirbt im Krankenhaus, Margarita findet sich in einem Heim wieder. Noch heute quält sie die Ungewissheit, nicht zu wissen, was mit dem Vater geschehen ist.

Laut der Datenbank des Historikers Wladislaw Hedeler stirbt Margaritas Vater noch am Tag seiner Verhaftung. Doch die gebrechliche Frau klammert sich an einem Gedanken fest: Sie hat Menschen getroffen, die ihn später gesehen haben wollen. "Es könnte sein, dass er noch lange in einem Lager gelebt hat", hofft sie.

In akribischer Arbeit verglich der Historiker von der Universität in Bonn das Hausbuch mit den Erschießungslisten der Gefängnisse in einem südlichen Vorort von Moskau. Nachweislich 125 Mieter verscharrten die Todesschwadrone dort in Massengräbern am Waldrand. Weitere 114 verbrannten sie und verstreuten die Asche unweit des Krematoriums. Die Spuren der übrigen 558 Hausbewohner sind im Aktendschungel nicht zu verfolgen. „Wer aus diesem Haus auszog, hörte auf zu existieren“, schreibt Jurij Trifonow in seinem Roman „Das Haus am Ufer“. Auch sein Vater wurde dort verhaftet. Alles, was von einem Leben übrig bleibt, ist eine Liste beschlagnahmter Gegenstände, die Historiker in archivierten Häftlingsakten finden.

Margarita Michailowa hütet ihre Familienfotos wie einen Schatz. Die studierte Geologin hat die Alben zwischen Büchern und Landkarten vergraben. Die kleine, verlotterte Zwei-Zimmer-Wohnung am westlichen Stadtrand bekam sie einst als Entschädigung - damals, als Chruschtschow die Kinder der Volksfeinde rehabilitierte, deren Eltern er einst umbringen ließ. Chrustschows Tochter Rada hingegen lebt in dem Domizil an der Prachtstraße Twerskaja, der alten Wohnung ihres Vaters.

Wenn es heute Nacht wird in Moskau, brennt im „Haus am Ufer“ nur in wenigen Fenstern Licht. Zahlreiche Wohnungen stehen wieder leer. In den übrigen Apartments logieren neureiche Russen und Ausländer wie Britta Hilpert, die in Moskau als Journalistin arbeitet. Der Zettel, auf dem steht, wer einst in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung lebte, klemmt in einer Ausgabe von „Das Haus am Ufer“. Sie hat es gleich nach dem Einzug gelesen.














„Ich denke jeden Tag an die Menschen, die hier wohnten“, sagt sie. Wenn sie ihre Nachbarn trifft, reden sie manchmal vom Grauen der Vergangenheit. „Doch ehrlich gesagt“, seufzt sie, „sind es die steigenden Mietpreise, die sie am meisten kümmern.“

Simone Schlindwein