Dienstag, 7. August 2007

zurück in die Zukunft: Sergej Posad














































Aus Moskau gen Nordwesten hinauszufahren war wie einmal tief Luft zu holen. Langsam schleppte sich der alte und nicht mehr ganz TÜV-sichere, ehemalige deutsche Reisebus (mit noch deutscher Aufschrift) aus der Stadt hinaus und zog eine Rußwolke wie eine grauschwarze Fahne hinter sich her. Hinter den letzten großen Wohnblöcken wurde es plötzlich grün: Wiesen, Wald, Horizont und knallblauer Himmel. Die Sonne heizte den Bus innerhalb von Minuten auf, ich schwitzte. Der alte Mann mit den fettigen Haaren und dem zerwaschenen Jogginganzug neben mir machte seine dritte Bierdose auf. Er stank bestialisch, ich drückte mir meine Nase an den schmierigen Fensterscheiben platt.
Nach eineinhalb Stunden tuckerte der Bus über den Bouleward der Roten Armee in Sergej Posad ein, kam ächtzend am Bahnhof zum Stehen. Als ich tief Luft holend aus dem Bus sprang, war da dieses Gefühl von einem Trip "zurück in die Zukunft". Durch seine Zahnlücken hinweg grinsend empfing mich ein sehr alter Harmonika-Spieler. Er saß dort am Busbahnhof und gehörte irgendwie zum Inventar dazu: Laut sang er alte Lieder vom Großen Vaterländischen Krieg, von den Soldaten und der Liebe, von den Helden der sozialistischen Arbeit. Rings um ihn herum waren Baustellen, Neubauten, Spielcasinos und Supermärkte, die dieser historischen Stadt am Goldenen Ring eine wohlhabende Zukunft versprachen.
Meine Freunde holten mich ab, kauften mir Eiscreme zum Frühstück, um mich willkommen zu heißen und los ging es auf eine historische Entdeckungstour. Eigentlich wollte ich alles über die Geschichte Alexander Newskijs und der Zeit des heiligen Sergejs erfahren, doch wir redeten immer nur über die Einkaufszentren, die bald hier und da entstehen werden, über das Rathaus, das gerade fertig gestellt wurde, und über die prächtigen Villen, die zwischen den alten verfallen Holzhäuschen hervorstachen. Als wir im historischen, gerade frisch restaurierten Stadtkern ankamen, hatte ich schon das zweite Eis-am-Stil in der Hand. Irgendwie gehört das einfach zum russichen Sommer dazu, Unmengen an Eis zu verdrücken. Meine neuen Freunde zeigten mir stolz die Kirchen und Türmchen, führten mich an den Ikonen vorbei und wollten doch gleich wieder weiter zum Autoscooter und Rummelplatz, der um die Ecke aufgebaut war. So rasten wir an der Warteschlange für die Kathedrale vorbei und wunderten uns, warum die nächste Warteschlange an einem Kreuz endete, aus dem heiliges Wasser herausfloss und schon fand ich mich auf einem Kettenkarussell wieder. Es war einfach ein typischer, russischer junger Nachmittag: etwas Kultur, dann viel leichtes Vergnügen und dazwischen viel Eiscreme.

Zum Abendessen waren wir alle auf der Datscha von Daryas Eltern eingeladen. Ich überstand die übliche Fragestunde nach meinen außergewöhnlichen vegetarischen Essgewohnheiten, indem ich mein Vegetarier-Dasein aus meiner "Religion" heraus begründete. Die Großmutter zupfte entsetzt an meinen Hüften herum: "Wie kannst du nur leben ohne Fleisch? Damals, im Lager, oben am Polarkreis - Mädchen - was wir uns da nach Fleisch gesehnt haben!" Sie war durch Stalins Großen Terror zum Waisenkind geworden, auf Stalins Befehl als 2jähriges Kind ins Waisenhaus an den Polarkreis verschleppt worden und musste dort im Lager schuften. Sie kochte mir Kartoffeln während sie vom Lager erzählte. Ich war dankbar: für die Geschichte, die sie mir anvertraute, und die Kartoffeln, die sie mir kochte. Sie verstand die Welt nicht mehr: "Ich bin zu alt, um an den Vegetarismus zu glauben, Kind. Wir haben auch an Vieles geglaubt, als ich jung war." In Sibirien überlebe man als Vegetarier nicht lange, bekräftigte auch der Vater und guckte mich entsetzt an, als ich von der Baikal-Rundreise erzählte: "Zu Fuß? Ihr Vegetarier habt sie ja nicht mehr alle!", sagte er und kaute weiter auf seinem Knochen herum.
Nach dem Tee mit russischer Fernseh-Unterhaltung schlenderten wir zum See, spielten Volleyball auf dem alten Militär-Sportplatz bis die Sonne unterging und die Insekten uns die Beine zerstachen, dann brachte mich der Vater zum Bahnhof.
Unendlich müde und entspannt quetschte ich mich zwischen zwei alte Omas, die mit Kartoffeln, Zuchini und Gurken beladen im sitzen friedlich vor sich hinschnarchten. Sie rochen nach dem Leben auf dem Land und traten die Reise nach Moskau an, um morgen wieder an den Straßenrändern der hektischen Hauptstadt die Erträge aus ihrem Gemüsegarten zu verkaufen. Langsam tuckerte der Zug vor sich hin, hielt an jeder Siedlung und lud ganze Gemüsegärten in das Abteil. Am liebsten wäre ich nie in Moskau angekommen.

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