Samstag, 10. November 2007

Das Haus des Schreckens

Das Haus des Schreckens

Im mächtigen Wohnkomplex schräg gegenüber des Kreml leben die Opfer der Stalinschen Säuberungen Tür an Tür mit ihren Henkern. Im Jahr 1937 verschwinden dort ganze Familien spurlos, die Wohnungen stehen leer.










Immer wenn der Wind aus Südwesten kommt, zieht der süße Duft der Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ in die Treppenaufgänge der Wohnanlage gegenüber des Kreml. Wie ein Dampfer thront sie am Moskau-Fluss. „Haus am Ufer“, sagt der Volksmund. Im Herbst 1937 weht der kalte Wind nicht nur den Schokoladengeruch, sondern auch bunte Blätter in die Korridore. Der graue Komplex ist fast leer geräumt - sechs Jahre nachdem die Parteikader dort eingezogen sind. Wohnungstüren stehen offen, Fenster schlagen auf und zu. „Es war ein schreckliches Jahr“, wispert die 78-jährige Rada Chruschtschowa, Tochter des Stalin-Nachfolgers Nikita Chruschtschow.












Sie sitzt gedankenverloren auf dem Diwan im Salon ihrer Wohnung. An der Wand hängt das Portrait ihres Vaters, einst der mächtigste Mann der Sowjetunion. Die kleine, weißhaarige Frau ist sieben Jahre, als ihre Nachbarn verschwinden. „Es war so dunkel im Haus, wenn wir am Abend im Hof spielten“, erinnert sie sich. „Nur hinter wenigen Fenstern brannte noch Licht.“













Wie Rada tobt auch die achtjährige Margarita Michailowa zwischen den Springbrunnen umher. Am liebsten spielt sie „Kosaken und Räuber“. Wie kein anderes Kind kennt sie die Verstecke in den verschachtelten Treppenhäusern. Das Mädchen mit den blauen Augen lebt im Seitenflügel gegenüber des Treppenaufgangs der Chruschtschow-Familie. Die Nachbarn sind verschwunden, Stille herrscht im Flur. An Rada kann sich die heute 79-jährige Michailowa nicht erinnern. Doch ihre Väter kannten sich gut.

Nikita Chruschtschow stieg 1934 zum ersten Sekretär des Parteikomitees von Moskau auf. Der mächtigste Mann der Hauptstadt ist für Neubauten zuständig. Margaritas Vater, Wassilij Michailow, der als Bauleiter für das Jahrhundertprojekt „Palast der Sowjets“ verantwortlich ist, muss seinem Nachbar Chruschtschow immer wieder die Pläne vorlegen. Ganz im Geist der neuen Zeit wollen sie das höchste Gebäude der Welt bauen - mit einer gigantischen Leninstatue an der Spitze.

Als die dunkel gekleideten Männer des Geheimdienstes NKWD im September 1937 ihren Vater verhaften, ist Parteisekretär Chruschtschow Margaritas letzte Hoffnung. Am Abend wartet sie mit ihren Schwestern Julia und Nadja und der Mutter Nadeschda vergeblich auf den Vater. Doch der große Mann mit dem Schnauzbart kommt nicht nach Hause. Stattdessen dringen vier Männer mit Lederjacken in die Wohnung ein. Sie beschlagnahmen die Tagebücher der Großmutter, zerreißen die Gedichte der 15-jährigen Schwester, die sie in ihre Schulhefte gekritzelt hat. „Sie haben meine Puppe gegen die Wand geworfen", erinnert sich die alte Dame. „Der Porzellankopf zersplitterte.“ Sie hat Tränen in den Augen. Damals beschimpfen sie die Männer als „Missgeburt eines Volksfeindes“.

Am nächsten Tag schreibt das verzweifelte Mädchen Chrustschow einen Brief, dem Chef ihres Vaters. Stundenlang hockt sie vor der Wohnung Nummer 196, bis der Kahlköpfige mit seinen Leibwächtern erscheint. „Schafft sie weg“, kommandiert er. Was Margarita nicht ahnt: Der Stalin-treue Moskauer Parteichef hat die Festnahme selbst angeordnet. Als ihm das Politbüro eine Quote vorgibt, wonach er 35 000 „Volksfeinde“ zu verhaften hat, von denen 5 000 zur Exekution vorgesehen sind, meldet er die Überfüllung des Solls: 41 000, 8500 Hinrichtungen. So verdient sich der Stalin-Nachfolger seinen Posten als Parteichef der Ukraine, den er 1938 antritt.

Im „Haus am Ufer“ leben Opfer und Täter Tür an Tür: Sie speisen in derselben Kantine, lassen in derselben Wäscherei ihre Hemden reinigen. Ihre Kinder spielen im selben Innenhof, sie spüren, dass etwas Schreckliches vor sich geht. „Sprecht mit niemandem über irgendwas“, hat der Vater Margarita eingebläut. Ihre Freundin Maja, die Tochter des Volkskommissars für das Eisenbahnwesen, Lasar Kaganowitsch, flüstert ihr zu: „Das Haus ist voller Spitzel.“ Der Portier an der Treppe, der die Gäste in ein dickes Buch einträgt, der Fahrstuhlwärter, der jeden bis zur Wohnungstür begleitet.

Es gibt kein Wohngebäude in Moskau, in dem Utopie und Schrecken der Stalinzeit bis heute so deutlich zu spüren sind. Der 1931 fertig gestellte Wohndampfer galt als Flagschiff und Versuchslabor einer neuen, kommunistischen Sozialgemeinschaft. Die Führungsriege der Partei, des Militärs und der Regierung zieht in das Bonzenbollwerk ein. Und auch Stalin selbst, der Initiator des Terrors, geht in dem Wohnblock ein und aus, um seine Tochter Swetlana zu besuchen.

In der Gesellschaft der Zukunft soll es keinen Individualismus mehr geben. Deswegen sind alle Wohnungen gleich geschnitten und mit einheitlichen, sorgfältig nummerierten Möbeln bestückt. „Wir lebten im Luxus, hatten einen Lift und warmes Wasser“, erinnert sich Michailowa. Sie spielt gern mit der Wählscheibe des modernen, schwarzen Telefons, die so schöne Geräusche macht. Während das Volk hungert, wird Rada Chruschtschowa geschickt, um das Essen aus der Kantine zu holen, der „Küchenfabrik“. Dort gibt es Milch und Fleisch. Die bolschewistische Elite trifft sich im hauseigenen Theater oder besucht das Kino „Udarnik“ an der Rückseite des Gebäudes. Das „Haus am Ufer“ ist eine Stadt in der Stadt.

Dann kommt die Zeit, in der die Verschwörungsmanie und Paranoia vor dem Klassenfeind ihren Höhepunkt erreichen. Der Bau mit den doppelten Wänden, den kontrollierbaren Treppenaufgängen und den abgehörten Telefonleitungen entpuppt sich als Menschenfalle. Von Anfang an war alles auf Überwachung angelegt. Nichts passiert unbemerkt. So beobachtet immer jemand, wie die Frau des Marshalls Michail Tuchatschewskij in Lederjacke über den Hof spaziert, um im Keller auf dem Schießstand zu trainieren.

Oder wie der Volkskommissar für innere Angelegenheiten und Chef des Geheimdienstes, Nikolaj Jeschow, betrunken in Richtung Aufgang Nummer acht wankt. Saufexzesse und sein ausschweifendes Sexualleben machen ihn angreifbar, 1939 wird auch er hingerichtet - von seinen eigenen Männern. In diesem Mikrokosmos des Stalinismus beginnt die Revolution ihre Kinder zu fressen.

Ende des Jahres 1938 steht jede fünfte Wohnung leer. Das Flagschiff wird zur Titanic des Sowjetkommunismus. Von einstmals 2745 Bewohnern verhaftet der Geheimdienst zwischen 1934 und 1953 insgesamt 887 Hausbewohner. Die Hälfte wird erschossen.

Stalins Schergen löschen ganze Familien aus. Nach der Verhaftung von Margarita Michailowas Vater verfrachten die Männer ihre Mutter zuerst in eine Wohnung am Gorkij Park. Sie stirbt im Krankenhaus, Margarita findet sich in einem Heim wieder. Noch heute quält sie die Ungewissheit, nicht zu wissen, was mit dem Vater geschehen ist.

Laut der Datenbank des Historikers Wladislaw Hedeler stirbt Margaritas Vater noch am Tag seiner Verhaftung. Doch die gebrechliche Frau klammert sich an einem Gedanken fest: Sie hat Menschen getroffen, die ihn später gesehen haben wollen. "Es könnte sein, dass er noch lange in einem Lager gelebt hat", hofft sie.

In akribischer Arbeit verglich der Historiker von der Universität in Bonn das Hausbuch mit den Erschießungslisten der Gefängnisse in einem südlichen Vorort von Moskau. Nachweislich 125 Mieter verscharrten die Todesschwadrone dort in Massengräbern am Waldrand. Weitere 114 verbrannten sie und verstreuten die Asche unweit des Krematoriums. Die Spuren der übrigen 558 Hausbewohner sind im Aktendschungel nicht zu verfolgen. „Wer aus diesem Haus auszog, hörte auf zu existieren“, schreibt Jurij Trifonow in seinem Roman „Das Haus am Ufer“. Auch sein Vater wurde dort verhaftet. Alles, was von einem Leben übrig bleibt, ist eine Liste beschlagnahmter Gegenstände, die Historiker in archivierten Häftlingsakten finden.

Margarita Michailowa hütet ihre Familienfotos wie einen Schatz. Die studierte Geologin hat die Alben zwischen Büchern und Landkarten vergraben. Die kleine, verlotterte Zwei-Zimmer-Wohnung am westlichen Stadtrand bekam sie einst als Entschädigung - damals, als Chruschtschow die Kinder der Volksfeinde rehabilitierte, deren Eltern er einst umbringen ließ. Chrustschows Tochter Rada hingegen lebt in dem Domizil an der Prachtstraße Twerskaja, der alten Wohnung ihres Vaters.

Wenn es heute Nacht wird in Moskau, brennt im „Haus am Ufer“ nur in wenigen Fenstern Licht. Zahlreiche Wohnungen stehen wieder leer. In den übrigen Apartments logieren neureiche Russen und Ausländer wie Britta Hilpert, die in Moskau als Journalistin arbeitet. Der Zettel, auf dem steht, wer einst in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung lebte, klemmt in einer Ausgabe von „Das Haus am Ufer“. Sie hat es gleich nach dem Einzug gelesen.














„Ich denke jeden Tag an die Menschen, die hier wohnten“, sagt sie. Wenn sie ihre Nachbarn trifft, reden sie manchmal vom Grauen der Vergangenheit. „Doch ehrlich gesagt“, seufzt sie, „sind es die steigenden Mietpreise, die sie am meisten kümmern.“

Simone Schlindwein


Keine Kommentare: