Montag, 26. November 2007

"Die Fratze des Regimes"

„Die Fratze des Regimes“

Die russische Staatsmacht löst den Protestmarsch der „Nichteinverstandenen“ gewaltsam auf. Spezialeinheiten nehmen Ex-Schachweltmeister und Galionsfigur der Opposition, Garry Kasparow, fest. Eine Woche vor den Parlamentswahlen in Russland zeigt das Putin-Regime seine „Furcht erregende Fratze“.

Seine fünf breitschultrigen Bodyguards konnten Ex-Schachweltmeister und Oppositionspolitiker Garry Kasparow nicht beschützen. Mit brachialer Gewalt stürzen sich die mit Helmen, Schienbeinschonern und Schutzwesten gepanzerten, muskelbepackten Männer der Spezialeinheit OMON auf die Reporter und Kameramänner, die Kasparow umringen. Fotografen stürzen im Gemenge zu Boden, Kameras werden zertreten. Während die großen Männer der OMON seine Bodyguards in die Mangel nehmen, versucht Kasparow zu entwischen. Doch er hat keine Chance.

Die Demonstranten schreien im Chor „freies Russland, freies Russland – Russland ohne Putin“, als die aggressiven OMON-Einheiten den Oppositionspolitiker an den Armen packen und ihn zum Polizeibus schleifen. Der steht schon für ihn bereit. „Ihr Banditen“, schreit eine Rentnerin mit weißer Fellmütze den Kommandierenden der Spezialeinheiten des Innenministeriums an, als er die Wagentür hinter Kasparow schließt. „Ihr tretet die Demokratie mit den Füßen“, brüllt sie und zeigt dem breitschultrigen Mann die Faust. Kasparow schiebt von innen den Vorhang am Rückfenster des Polizeibusses zur Seite und winkt den Reportern und Demonstranten durch die schmutzige Scheibe hindurch zu. „Freies Russland, freies Russland“, fordern die Protestler.

Als der Bus mit Kasparow, der Galionsfigur des Oppositionsbündnisses „Anderes Russland“, abfährt, verstummen die Sprechgesänge. Aggressiv schupsen die gepanzerten Männer die Teilnehmer des Protestmarsches, Reporter, Fotografen und Kameramänner vor sich her. Sie bilden eine Kette, um die Straße zu versperren und den Demonstrationszug endgültig zu stoppen. Als ein junger Russe erneut die Parole „Russland ohne Putin“ anstimmt, wird auch er gepackt, davon geschleift und festgenommen.

Ziel des so genannten „Marsches der Nichteinverstandenen“ war es, eine Petition für faire Wahlen bei der Zentralen Wahlkommission im Stadtzentrum Moskaus abzugeben. Doch die Einheiten der OMON hatten das Ende der Mjasnizkaja Straße verbarrikadiert, die ins Zentrum führt, um den Demonstrationszug zu stoppen. Eine Woche bevor das russische Volk am 2. Dezember aufgerufen ist, ein neues Parlament zu wählen, hat die russische Staatsmacht vor den laufenden Kameras der in- und ausländischen Reporter gezeigt, was sie von Demokratie hält. „Geh von der Straße oder ich schlag dich mit meinem Knüppel“, fährt der Kommandiere der OMON einen Journalisten der englischen Tageszeitung „The Moscow Times“ an, als dieser ihn nach dem in der Verfassung verankertem Demonstrationsrecht fragt.

Dabei hatte alles friedlich begonnen. Am Nachmittag versammeln sich einige tausend Protestler zu einer genehmigten Kundgebung in der Sacharow-Straße. Kasparow, dessen Oppositionsbündnis „Anderes Russland“ nicht zu den Wahlen zugelassen ist, hält eine feurige Rede: „Dieses Regime hat keine Allergie gegen Blut!“, wettert er in das Mikrofon, als er auf den Krieg in Tschetschenien und das Geiseldrama in Beslan zu sprechen kommt. „Freies Russland“ antworten ihm die Demonstrationsteilnehmer. Auch Boris Nemzow, Spitzenkandidat der Oppositionspartei „Union der gerechten Kräfte“ (SPS) attackiert den Präsidenten und nennt ihn einen Zyniker: „Ole Ole Ole Ole – Russland ohne Putin, Russland ohne Putin“, stimmt er die Menge ein. Seine Parteianhänger schwenken mit Blau-Weiß-Roten Flaggen der SPS-Partei. Auf einem selbst gemalten Schild ist Putins Gesicht neben einem Hitler Portrait zu sehen: „Warm hast du deinen Bart abrasiert?“, steht darunter.

„Ich kann es nicht glauben, dass ihr Deutschen Putin einen Demokraten nennt“, klagt der 74-jährige Rentner Michail Tschudarkow. Er habe noch unter Stalin in der Armee gedient, erzählt er. „Den würde doch auch niemand als Demokraten bezeichnen“, regt sich der ehemalige Journalist und Gründer einer Bürgerrechtsbewegung gegen den Krieg in Tschetschenien auf. Er wird nächste Woche die SPS wählen, deren Umhang er über seinem schmutzigen Anorak trägt.

In der Sacharow-Straße in der Nähe der Metrostation Komsomolskaja haben sich an diesem grauen Wintertag rund 2000 Menschen versammelt, um ihren Frust und ihre Verzweiflung über die anstehenden Wahlen auszudrücken. Darunter sind nicht nur alte Menschen, die die Sowjetzeiten noch erlebt haben und sehen wie das Land zurück in die Autokratie fällt, sondern auch junge Aktivisten wie die Psychologie-Studentin Lena Ledweka.

Sie trägt eine Flagge mit den russischen Nationalfarben über den Schultern und hält die Verfassung wie eine Urne, die sie zu Grabe trägt, vor sich. „Wir haben faktisch keine wirklichen Wahlen nächste Woche. Das ist reine Farce“, erklärt sie. „Die Wahlen finden auf der Straße statt – nur hier können wir noch zeigen, dass wie gegen das Regime sind“, sagt sie und hält die Verfassung hoch. Eigentlich würde die 22-Jährige gerne ihr Kreuz neben der Option „gegen alles“ machen, so wie es früher auf den Wahlzetteln in Russland möglich war. Doch auch diesen Ausdruck des Protestes hat der Kreml abgeschafft, als 2005 das Wahlgesetz geändert wurde. Deswegen bleibe ihr nur eine Wahl, sagt sie: einen dicken Strich durch den gesamten Wahlzettel zu machen.

„Ich kann verstehen, wenn die Jugend enttäuscht ist und ins Ausland abwandert“, mischt sich Viktor Medwedowskij ein. In diesem Russland unter Putin gebe es für junge, kritische Leute faktisch keine Perspektiven, seufzt der 77-jährige Rentner. Deswegen hätten die klugen Leute schon lange das Land verlassen. „Wenn man den aggressiven OMON-Männern ins Gesicht guckt, dann kann man es sehen: die Furcht erregende Fratze des Regimes“, empört er sich und zeigt zu den gepanzerten Spezialeinheiten hinüber, welche die Kundgebung hermetisch abriegeln. Auch er wird nächste Woche bei den Wahlen für die Oppositionspartei SPS stimmen.

Doch was Menschen wie Medwedowskij und Tschurdakow mit dem Bürgerrechtler Simon Lebedowskij gemein haben, ist: Sie wählen SPS oder die demokratische Partei „Jabloko“, weil ihre Stimmen sonst kein Gehör finden. Der Pensionär Lebedowskij, ehemaliger Lehrer und Gründer des philosophischen Debattierclubs „Kontakt“ gibt zu, dass er sich bei keiner der beiden Parteien wirklich aufgehoben fühlt. Denn: „Sowohl der Vorsitzende der SPS, Nemzow, als auch der Jabloko-Chef, Gregorij Jawlinskij, sind machtbesessene Egomanen“, klagt er. Deswegen wird es auch nie gelingen, die beiden Parteien zu vereinigen und eine starke Opposition aufzubauen. Die Opposition, so wie sie heute in Russland auf die Straße gegangen ist, schwächt sich also vor allem selbst. Und auch Kasparow, der sich wie ein Märtyrer von der Staatsmacht festnehmen lässt, kann ihr dabei nicht helfen.

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