Samstag, 10. November 2007

Die Große Verdrängung von 1937

Die Große Verdrängung von 1937

Von Simone Schlindwein, Moskau

Im Westen sprechen Historiker vom Großen Terror. Im russischen Volksmund heißt die Schreckenszeit des Stalinismus einfach „37“. Denn 1937, heute genau vor siebzig Jahren, begannen die Massenerschießungen mit dem Befehl Nummer 00447. 1,5 Millionen Menschen wurden in den darauf folgenden Monaten verhaftet, davon 700.000 exekutiert.












„Ein einziger Befehl hat mich meiner Kindheit beraubt“, sagt die Rentnerin Olga. Sie ist 72 und lebt auf einer kleinen Datscha in Moskau. Sie hat Kinder und Enkelkinder um sich herum. „Die haben eine schöne Kindheit heute“, nickt sie stolz und ist glücklich.

Olgas Kindheit allerdings war ein Trauma. Sie weiß nicht, wo sie geboren wurde. Sie kennt ihren damaligen Namen nicht. Sie war gerade zwei Jahre alt, als ihre Eltern eines Nachts einfach verschwanden. Wohin, das hat sie nie erfahren. Vermutlich wurden sie Opfer der landesweiten Repression. Nach dem Warum hat Olga nie gefragt. „Es war die Zeit der Lügen. Damals, Du weißt schon: 37.“ 1937 war das Jahr, in dem der Stalin-Terror seinen Höhepunkt erreichte und das Jahr, in dem Olga in ein Waisenhaus nach Norilsk, eine Stadt am nördlichen Polarkreis, verschleppt wurde und später gezwungen wurde im dortigen Nickelkombinat zu malochen – wie tausende anderer Zwangsarbeiter auch. „Wir haben immerzu gefroren, denn dort ist es im Winter bitterkalt und auch im Sommer wird es nie wirklich warm“, erinnert sie sich.

Olgas Schicksal ist eines von Zehntausenden. Bei der Nichtregierungsorganisation Memorial, die 1989 aus einer Bürgerinitiative zur Errichtung von Denkmälern für die Opfer der Repressionen hervorgegangen ist, meldeten sich allein im vergangenen Jahr hunderte Waisen wie Olga. In den Datenbanken von Memorial, die nun mehr als zwei Millionen Kurzbiografien von Opfern enthalten, machen sie sich auf die Suche nach dem Schicksal ihrer Eltern.

Der berüchtigte Befehl, der Olgas Kindheit zerstörte, trug die Nummer 00447. Ihn hat der Chef des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKVD), Nikolai Jeschow am 30. Juli 1937 dem Politbüro vorgestellt. Damit begann offiziell die Zeit des Großen Terrors, der bis 1938 anhielt. Historiker nennen diese Periode auch die „Jeschowtschina“, denn Jeschow war Stalins loyaler Exekutor und Organisator der Massenerschießungen.











Der Titel des Befehls lautete: „Über die Repressionsmaßnahmen gegen ehemalige Kulaken, Kriminelle und andere antisowjetische Elemente“. Wörtlich heißt es: „Vor den staatlichen Sicherheitsorganen steht nun die Aufgabe, schonungslos die gesamte Bande antisowjetischer Elemente zu zerschlagen, das arbeitende Sowjetvolk vor ihren konterrevolutionären Intrigen zu schützen und schließlich, ein für allemal, ihrer gemeinen Zersetzungsarbeit gegen die Grundlagen des sowjetischen Staates ein Ende zu bereiten.“

Insgesamt hat der NKVD nach heutigem Kenntnisstand in 14 Monaten rund 1,5 Millionen Menschen verhaftet, zirka 700.000 von ihnen wurden erschossen.














Auf den Befehl 00447 folgte im August Jeschows Befehl Nummer 00486 „Über die sozial gefährlichen Kinder“. Das waren Kinder wie Olga: Waisenkinder, deren Eltern als Schädlinge des Sowjetvolkes ins Lager kamen oder erschossen worden waren. Kinder über 15 Jahre fanden sich im Gulag wieder. Vor ihnen lagen acht bis zehn Jahre Zwangsarbeit. Die jüngeren Kinder schickte der NKVD in spezielle Waisenhäuser wie das in Norilsk.

„Diese Kinder sind unter traumatischen Bedingungen aufgewachsen“, erklärt Memorial-Mitarbeiterin Irina Scherbakowa. Viele könnten bis heute nicht darüber sprechen, stellt die gelernte Historikerin fest, die bei Memorial ein Oral History Projekt betreut und derzeit die Lebensläufe dieser „Kinder von 37“ untersucht. „Dabei haben gerade diese Kinder eine große Intellektuellen-Karriere in den 60er bis 80er Jahre der Sowjetunion gemacht“. Sie hat hunderte von Interviews mit Menschen dieser Generation geführt und muss immer wieder feststellen: Besonders bei den Kindern von 37 sei der Drang nach Anpassung sehr groß. „Aus vielen sind echte Patrioten geworden. Bis heute haben sie Angst, sich gegen die Staatsmacht aufzulehnen.“

Es gehe bei diesem Projekt nicht nur um die Kinder von 37, sondern um die Jugendlichen von heute, betont Scherbakowa. Es handle sich um Erzählungen von Leuten, die damals im gleichen Alter waren wie die Jugendlichen heute. Das schaffe unter Jugendlichen ein Interesse für diese Geschichte und eine Gelegenheit, diese beiden Generationen zusammen zu führen. „Bis heute findet in den Geschichtslehrplänen der Große Terror nicht wirklich statt“, klagt sie, im Gegenteil. Der Staat versuche mit einer überschwänglichen Patriotismus-Kampagne wie beispielsweise mit der Jugendbewegung „Naschi“ die Jugend wieder mit den Symbolen des „ewigen Siegesstaates“ zu blenden. Präsident Wladimir Putin, der sagt, dass sich die Russen ihrer Vergangenheit nicht schämen sollen, hat vor einigen Wochen in einem Treffen mit Vertretern des Bildungsministeriums und Geschichtslehrern angeordnet, aus den Geschichtslehrbüchern solle der negative Pathos gestrichen werden.

Laut Scherbakowa zeigt sich in Putins Geschichtspolitik die Angst des Staates, dass die Wahrheit über den Terror der 30er Jahre, die Menschen zu Anti-Patrioten mache. Dabei ließe sich die Wahrheit nicht wegstreichen: „Es gibt wohl keine Familie in Russland, die nicht in irgendeiner Weise in die Repressalien verwickelt war.“ Das zeige auch der Band aus dem Schülerwettbewerb "Russische Jugendliche über den Grossen Terror heute“, den Memorial im September herausgeben wird. Darin stellen Schüler fest: „Trotz allem war meine Großmutter eine Patriotin, sie liebte ihr Vaterland.“

Diese Generation heutiger Großeltern, die zu den Kindern von 37 gehört, demonstriere laut Scherbakowa das wahre Problem Russlands: „Die Unfähigkeit zu trauern und die unsagbare Fähigkeit zu verdrängen.“ Auch Olga spricht bis heute nicht gerne von ihrem Leidensweg. Auch ihre Kinder wissen nur wenig über die Vergangenheit der Großmutter, sie will ihnen dieses traurige Schicksal nicht zumuten, sagt sie. Im Alter müsse man sich an die guten Seiten des Lebens erinnern, ist sie überzeugt, „man könne nicht ein Leben lang Opfer bleiben. „Und Stalin ist schon lange tot“, winkt sie ab.



http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,497530,00.html

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