Montag, 16. Juli 2007

Verschwörung des russischen Paragraphen-Dschungels


"Ich habe ein Problem mit dem russischen Justiz-System", hatte ich heute meinen Satz angefangen und mein russischer Kollege, den ich deswegen anrief, meinte sofort "Ja, ich auch!" So waren wir uns ganz schnell einig, dass nichts so ist wie es zu sein scheint hinter den Potemkinschen Fassaden Putinstans.

Mir war in der vergangenen Woche ein Fax auf den Schreibtisch geflattert. Ich hatte den Artikel aus dem russischen Nachrichtenticker gelesen: "9 Jahre Haft für deutschen Staatsbüger" und dachte: Ach, das recherchiere ich doch mal eben nach...das war ein grober Fehler, so lapidar einfach vor mich hin zu denken.

Drei konzentrierte Tage am Telefon, bzw. drei schlaflose Nächte über meinem Wörterbuch später gab dann das Faxgerät seinen Geist auf und auch ich war kurz davor. Mehr als 200 Seiten russischen Paragraphen-Wahnsinn hatte das arme Ding ausspucken müssen und ich hatte auch noch mehrfach drauf gehauen - in der Hoffnung, dass sich dadurch ein paar Stunden Schlaf für mich ergeben.

Alles klang so einfach, so klar: Ein deutscher Geschäftsmann exportiert Zeug nach Russland, vertut sich mit den Zollbestimmungen, Polizei kommt und sperrt ihn weg. Er wird unschuldig verknackt, 9 Jahre Lagerarbeit. Schlimmes Schicksal - 5000 Zeichen Tränendrüsenattacke. Pustekuchen..es kam alles anders als gedacht.

Nach dem ersten Anruf packte mich die Neugierde: Seine Frau schluchzte erbärmlich. Sie tat mir leid, aber unter Tränen war der leichte russische Akzent gut zu hören. Deutscher Nachname, russischer Akzent: Spätaussiedler. Kombiniere: Dann hat er die russischen Zollbestimmen ja doch lesen können. Doch kein Einfaltspinsel! Er hatte mit Kaviar gehandelt und nebenbei auch mal 1 oder 2 Autos verkauft. Dass die Autos mit Panzerglas kugelsicher gemacht waren, hat sie nicht erwähnt.

Sein russicher Anwalt überschüttete mich mit Wutausbrüchen über "Gott und den verdammten Staat mit seiner verdammten Justiz", wie er immer wieder betonte. Er schien jedoch mehr an Gott zu glauben als an die Justiz. Zum Schluss eines Telefonats brachte er immer wieder der Aufruf: "Beten Sie, nur noch Gott kann ihm jetzt noch helfen!" Und wir telefonierten viel miteinander, mehrfach täglich. Manchmal kurz hintereinander. Er sprach wie ein Maschinengewehr, verhaspelte sich, so dass ich rein gar nichts mehr verstand. Ein Glück für mich, dass es in Russland noch immer schlechte Telefonleitungen gibt - besonders jenseits vom Ural, wo er lebt. So konnte ich mehrfach einfach auflegen, ihn Luft holen lassen, selbst noch die wichtigsten Vokabeln nachblättern und wieder anrufen: "Entschuldigung, die Leitung war plötzlich weg, können Sie das nochmal wiederholen?..."

Am Schluss war er der festen Überzeugung, der Geheimdienst würde seine Leitung immer wieder unterbrechen. Als wir heute Morgen einen totalen Server-Ausfall hier in der Redaktion hatten, einfach so, hätte ich beinahe schon fast selbst daran geglaubt.

Dieser Fall entpuppte sich als einzige Verschwörungstheorie des organisierten Verbrechens. Laut Aussagen des Anwalts hat "die Macht mit den drei Buchstaben" (und auch ich vermeide es, die Buchstaben hier im Internet zu posten) seinen Klientel persönlich nach Moskau bestellt, um ihn dort festzunehmen. Die Ermittlungen, das Gerichtsverfahren, der Prozess, das Urteil - alles eine ausgefeilte Methode, ihn aus dem Weg zu räumen... oder doch nur Verfolgungswahn?

Als ich zum ersten Mal das rusische Strafrechtsgesetzbuch aus dem Regal holte, um den Paragraphen über "Bildung einer kriminellen Vereinigung" nachzulesen, ging mein persönlicher Albtraum in Erfüllung: 500 Seiten russisch-juristisches Kauderwelsch.
... und das Faxgerät druckte schon wieder - dieses Mal das 67-Seiten lange Gerichtsurteil - während ich schon die ersten 50 Vokabeln nachgeschlagen hatte. Es war Freitag abend, 20.30 Uhr. Draußen regnete es in Strömen. Mir war klar: Mein Wochenende fiel buchstäblich ins Wasser.

Habt ihr gewusst, dass man auf Russisch einen Satz über 10 Zeilen ohne Punkt und Komma ziehen kann? Darin enthalten sind dann mindestens 5 Gerundivum, 6 Partizipial- und 3 ACI-Konstruktionen, 2 Adverbialbestimmungen und 27 Fußnoten mit Verweisen auf andere Paragraphen, drei Ausnahmefälle und 25 besondere Härtefallregelungen. Hier lag also die Verschörung begraben: Irgendjemand hat sich die Sätze so ausgedacht, dass sie auf keinen Fall ein Ausländer versteht!

Der Trialog rettete mich aus diesem Paragraphen-Dschungel. Nötig war ein einziger Telefonanruf: "Elena, du hast doch in Russland Jura studiert, oder? - Ich blick hier nicht durch!" Ich hörte ihr schüchternes Lächeln durch den Telefonhörer. Die Anwtort kam prompt: "Na das ist ja auch eine komplexe Sache" - ohja, das war endlich jemand, der mich verstand und mir alles auf deutsch in meinen Worten erklären konnte. Lena, ich danke dir!!

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